Schattentraeumer - Roman
Lautstärkeregler, der voll aufgedreht wurde, wann immer eine neue Schandtat gegen Elenas geliebten Erzbischof begangen
worden war. Und als die Anschläge auf der Insel zunahmen, wurden die Schwarzweißbilder zu einer konstanten Präsenz in ihrem
Haus, während die Warnungen und Schuldzuweisungen der Kommentatoren bis in jedes Zimmer und darüber hinaus durch das halbe
Dorf schallten. Einige ihrer Nachbarn, die selbst nicht über die nötige Ausrüstung verfügten, fingen sogar an, einen Spaziergang
vorzutäuschen und die Straße auf und ab zu gehen, um nichts von den Ereignissen zu verpassen, die aus Elenas geöffneten Fenstern
herausgeschrien wurden.
»Denkst du, du kannst heute Abend eine Kleinigkeit essen?«, fragte Praxi ihre Tochter.
»Was gibt es denn?«
» Kleftiko .«
»Kannst du es im Ofen lassen? Ich komme dann später und hole mir etwas.«
»Na gut, aber komm rechtzeitig, bevor es austrocknet.«
Elpida nickte, und Praxi blieb nichts anderes übrig, als sie ihrer Trauer allein zu überlassen.
Als der Abend in die Nacht überging, trug Praxi einen Teller in das Zimmer ihrer Tochter. Das Kind hatte sich bereits im Bett
zusammengerollt, also stellte sie den Teller leise auf dem Bodenab, falls es nachts hungrig aufwachen sollte. Dann holte sie ihren Mantel und verließ das Haus, um Loukis zu besuchen.
Beim Betreten seines Hauses sah sie, dass er sich schon ins Bett gelegt hatte. Lautlos schlüpfte sie aus ihrer Kleidung und
kroch neben ihn unter die Decke. Als er ihren Körper spürte, drehte Loukis sich um und nahm sie in den Arm. Auf dem Fensterbrett
brannte eine einzelne Kerze neben einer Schale leuchtend weißer Mondsteine.
»Elpida ist immer noch todunglücklich«, flüsterte Praxi.
»Wegen des Jungen?«
»Ja.«
Loukis seufzte und setzte sich auf. Er rieb sich die Augen und fuhr sich müde mit einer Hand über das Gesicht, bevor er sie
nach einer Zigarette ausstreckte. »Sie wird darüber hinwegkommen.«
»Vielleicht auch nicht«, widersprach Praxi. »Ich glaube, sie liebt Jason wirklich.«
»Ach, du meine Güte«, lachte Loukis. »Die beiden sind doch noch Kinder.«
»Das mag sein, aber wir waren kaum älter, als wir …«
»Du denkst doch nicht, dass sie …«
»Nein! Nein!«, entgegnete Praxi schnell. »Um Gottes willen, ich würde sie umbringen! Ich will damit nur sagen, dass unsere
Gefühle füreinander heute noch genauso stark sind wie zu der Zeit, als wir in ihrem Alter waren, das ist alles.«
»Das stimmt«, gab Loukis zu. »Ich schätze, das bedeutet, ich muss den Jungen im Auge behalten, wenn er nächsten Sommer zurückkommt.«
»Damit sind wir schon zu zweit«, erwiderte Praxi. »Ich schwöre dir, wir werden so erschöpft sein wie nie zuvor.«
»Erinnere mich nicht daran«, brummte Loukis. »Was gäbe ich dafür, einmal in Ruhe die ganze Nacht mit dir verbringen zu können,
ohne dass wir uns im Dunkeln verstecken müssen.«
Praxi drückte Loukis so fest an sich, wie sie nur konnte. Die wenigen Stunden, die ihnen der Mond schenkte, waren ihr diewertvollsten, doch genau wie er sehnte sie sich danach, von der Morgensonne geweckt zu werden, statt mit dem ersten Hahnenschrei
in die Dämmerung zu fliehen. Die Welt drehte sich so schnell und raubte ihnen die Zeit. Praxi spürte, wie sich das Gewicht
der Jahre um ihre fülliger gewordene Taille sammelte, und sie sah es in Loukis’ kräftigen Schultern und seinem breiten Kinn.
Sie waren nicht mehr jung, sondern bewegten sich auf das mittlere Alter zu. In ein paar Wochen wurde Praxi dreißig, und ihre
Tochter war auf dem besten Weg, sich zu einer jungen Frau zu entwickeln.
»Ich hasse es, alt zu werden«, murrte Praxi.
Loukis’ Brust wurde von einem leichten Lachen erschüttert. »Du bist nicht alt.«
»Aber ich fühle mich alt.«
»Na, du siehst jedenfalls nicht so aus.«
Praxi stieß ihm sanft den Ellbogen in den Bauch, und Loukis küsste sie auf den Scheitel. In seinen Augen wurde Praxi mit den
Jahren immer schöner. Er mochte die fließende Weichheit, die sich um ihre Schenkel legte und ihren Bauch sanft wölbte; er
liebte die Fältchen, die das Tageslicht nun um ihre Augen zum Vorschein brachte, winzige Furchen, die ihr Lächeln erzeugt
hatte; und er liebte es, dass sie keine Anstrengung scheute, um in sein Bett schlüpfen zu können, obwohl es leichter für sie
wäre, an einem anderen Ort zu schlafen.
»Ich habe keine Angst vor dem Älterwerden«, erklärte Loukis. »Was mir
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