Schattentraeumer - Roman
zu Hause eingetroffen waren: Seine Mutter würde
den Tisch decken, sie würden sich ordentlich satt essen, und sein Vater würde eine Flasche Wein aus dem Schrank holen. Dann
würden sie zum Thema Politik übergehen, und seine Eltern würden ihn fragend ansehen und auf Neuigkeiten warten. Doch was sollte
er ihnen erzählen? Einzig die Wahrheit, wie er sie sah: dass ihre geliebte Insel dabei war, sich in einen Sarg zu verwandeln.
Handgranaten wurden in Bars geschleudert, in denen sich Soldaten aufhielten – die meisten von ihnen kaum älter als er selbst.
Bomben explodierten in Militärstützpunkten, Flugzeuge wurde in die Luft gesprengt, in Ammochostos fanden offene Straßenschlachten
statt, und im Troodos-Gebirge brachen Feuergefechte aus. Tag für Tag verfasste Michalakis mit schwerem Herzen endlose Berichte
über junge Briten, die verkrüppelt oder getötet wurden, Arme und Beine von Kugeln durchlöchert, die Gedärme durch Schrapnells
zerfetzt, und deren Blut nun die zyprische Erde tränkte. Für die Politiker und ihre Spielchen hatte Michalakis nichts übrig,
doch die britischen Soldaten – gegen sie hegte er keinen Groll. Er wusste, dass viele nur die Gelegenheit nutzten, ein paar
Pfund zu verdienen. Er bezweifelte, dass es irgendeinen von ihnen überhaupt interessierte, ob Zypern souverän blieb oder mitGriechenland vereint wurde. Trotzdem waren sie hier und starben.
Und sie waren nicht die einzigen Opfer. Auch griechische Mütter mussten um ihre Söhne trauern, die in einen Kampf zogen, den
sich eine Handvoll Männer – inzwischen im Exil oder untergetaucht – ausgedacht hatte. Grivas schickte mit seinen Redekünsten
und der Forderung nach Patriotismus immer mehr Jugendliche in den sicheren Tod. Und je mehr Tote es gab, desto mehr junge
Männer schlossen sich ihm und einer Sache an, die ihr eigentliches Anliegen aus den Augen verloren hatte. Längst ging es in
dem Kampf um
enosis
– die Einheit Zyperns mit Griechenland – nicht mehr nur darum, die Insel von den Besatzern zu befreien. Es galt, all jene
aus dem Weg zu räumen, die der Großen Idee im Weg standen, seien es nun Briten, Türken oder Griechen. Der Konflikt war aus
den Fugen geraten und breitete sich nun ungezügelt in alle Richtungen aus.
»Es gab Hunderte Festnahmen«, berichtete Michalakis seinen Eltern nach dem Essen. »Sogar Mitglieder der Kommunistischen Partei
wurden verhaftet. Die Briten gehen extrem scharf gegen jede Form des Andersdenkens vor.«
»Und sie haben unsere Jugendlichen deportiert, vergiss die nicht«, fügte Georgios hinzu und schenkte allen Wein nach.
»Ich habe gehört, dass Kinder verhaftet werden, weil sie Steine bei sich tragen«, sagte Dhespina. »Das kann doch unmöglich
stimmen, oder?«
»Nun, so sieht es das Gesetz vor«, erklärte Michalakis.
»Was für ein Irrsinn«, stieß Georgios hervor.
»Eine Schande«, sagte Dhespina. »Sie sperren unsere Kinder ein, verdonnern unsere Dorfbewohner zu Geldstrafen und legen unseren
jungen Männern die Schlinge um den Hals. Die Briten haben verdient, was sie kriegen.«
Michalakis’ Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand, wo sich zwischen Familienfotos und Heiligenbildern eine stetig wachsende
Anzahl von Zeitungsartikeln behauptete. Darunter entdeckte er seine jüngste Titelgeschichte: die Hinrichtung derEOKA-Kämpfer Andreas Demetriou und Michael Karaolis durch den Strang. Sie waren die ersten Mitglieder der Organisation, die
man zum Tode verurteilt hatte. Bis zum bitteren Ende hatte Demetriou seine Mörder herausgefordert: »Ich bedaure, dass ich
nicht mehr erleben werde, wie unser Zypern befreit wird. Dennoch fürchte ich den Tod nicht, denn ein Leben in Sklaverei ist
rein gar nichts wert.«
»Mir will nicht in den Kopf, warum sich unsere eigenen Leute gegenseitig umbringen«, sagte Dhespina, während sie eine weitere
Flasche für ihre Männer entkorkte. »Zum Beispiel dieser Laienprediger, der in Kythrea erschossen wurde.«
»Er war ein Verräter«, erklärte Michalakis seiner Mutter. »So wenigstens hat es der Schütze der Gemeinde erklärt. Verräter
und Informanten – auf sie hat es die EOKA inzwischen genauso abgesehen wie auf die Soldaten des Gouverneurs.«
»Die EOKA sollte keine Zyprer erschießen«, sagte Dhespina entschieden und erhob sich vom Tisch, um das Geschirr abzuräumen.
Michalakis und Georgios tauschten einen vielsagenden Blick aus, schwiegen jedoch. Sie hatten bereits auf dem Weg nach
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