Schattentraeumer - Roman
Beisetzung
trotz sintflutartiger Regenfälle nicht zerstreuen wollte, zwangen die Soldaten die Menschen unter Einsatz von Tränengas, nach
Hause zu gehen. Makarios bezeichnete dieses Vorgehen als Sakrileg und als »einen dunklen Fleck in der Geschichte der britischen
Besetzung Zyperns«. Jeder pflichtete ihm bei.
Bei den Economidous wuchs dieser schändlichen Respektlosigkeit seitens der Besatzer noch eine andere, besondere Bedeutung
zu: Es war Michalakis’ erster großer Bericht, der es in die Zeitung schaffte. Dhespina war so stolz auf ihren Sohn, dass sie
den Artikel ausschnitt und an die Wand pinnte, direkt neben ein Bild des Erzbischofs.
Die Euphorie des neuen Gouverneurs, Sir John Harding, hielt sich dagegen in Grenzen, und drei Monate nach jener Beerdigung
verbannte er Makarios auf die Seychellen. Als diese Untat bekannt wurde, brachen auf der Insel Krawalle aus.Schon bald überschlugen sich die Meldungen: Ein britischer Polizist wurde niedergeschossen, ein türkischer Beamter tot aufgefunden,
man feuerte auf eine Engländerin und ihr Kind, Läden wurden verwüstet und geplündert, im Dorf Vassilia sagten sich einstige
Nachbarn den Kampf an, und unter Hardings Bett fand man eine Bombe, die jedoch nicht detonierte.
Wenn Michalakis seine Eltern zu Hause besuchte, berichtete er oft von solchen Zwischenfällen; er war überzeugt, dass Zypern
kurz vor einem Krieg stand. Bis in sein Heimatdorf schien sich diese Nachricht allerdings noch nicht herumgesprochen zu haben.
Das einzig Aufrührerische, was Praxi beobachten konnte, waren kleine, alte Frauen, die Vergeltung für Makarios’ Verbannung
übten, indem sie patrouillierende Soldaten mit Steinen bewarfen.
»Ich weiß, dass ich so was nicht sagen sollte«, begann Praxi, während sie die sandige Klippe zum Strand hinunterkletterten,
»aber mein Leben ist um einiges besser geworden, seit Erzbischof Makarios Zypern verlassen hat.«
»Und meins erst«, sagte Loukis. »Was meinst du, wie lange deine Mutter in Trauer sein wird?«
Praxi machte sich geschäftig daran, die Picknicktasche auszupacken. »Wer weiß? Vielleicht für den Rest ihres Lebens – oder
zumindest so lange, bis Makarios zurückkommt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das je passieren wird.«
»Nein. Ich auch nicht.«
Praxi reichte Loukis das Brot, ließ aber nicht los, als er danach griff. Sie blickte ihn ernst an, und Loukis konnte ihren
Atem auf seinen Lippen spüren.
»Glaubst du, es ist Krieg, Loukis?«
Er hielt ihrem Blick stand. Hier in der Sonne, während ihnen das klare, blaugrüne Wasser des Mittelmeers die Füße umspülte,
erschienen ihm die Unruhen so weit weg, als würden sie an einem anderen Ort stattfinden. Doch er hatte seinen Vater und Michalakis
reden gehört, und beide waren der Ansicht, dass sich die Situation sogar noch verschärfen würde, solangedie Briten nicht einlenkten und Zypern an Griechenland abtraten.
»Ich weiß es nicht, Praxi«, antwortete er ehrlich. »Die Erwachsenen scheinen das zu glauben. Ich habe keine Ahnung, wo wir
hinsteuern. Und wenn du mich fragst, verstehe ich auch nicht, warum alle so darauf brennen, zu Griechenland zu gehören.«
»Weil wir Griechenland
sind
!«, rief Praxi und ließ das Brot los. »Griechenland ist unsere Mutter, und wir müssen wieder zu ihr gehören! Oder was würdest
du sagen, wenn die Briten in dein Haus marschiert kämen, um dir mitzuteilen, dass du nie wieder mit deiner Mutter zusammen
sein darfst? So musst du es sehen, Loukis. Du kannst nicht einfach im Dorf herumrennen und sagen ›ich verstehe nicht, warum
alle so darauf brennen, zu Griechenland zu gehören‹. Du klingst wie ein Türke!«
Loukis gab sich geschlagen, und während er sein T-Shirt auszog und seine Hose aufknöpfte, wurde ihm klar, dass das Einzige,
was er im Leben brauchte, gerade neben ihm saß. Alles andere verwirrte ihn bloß.
Er rannte ins Wasser und stürzte sich kopfüber in die schneidende Kälte des Meeres. Sekunden später jagte Praxi ihm hinterher.
Fernab von Tageslicht und salziger Meeresbrise erhellte eine einzelne nackte Glühbirne den stickigen Raum. In der abgestandenen
Luft hing der Geruch von kaltem Zigarettenqualm, überall stapelten sich Rechnungen und Kartons. Der Anblick dieses Büros und
die Atmosphäre, die hier herrschte, waren vor allem eines: trostlos. Nicos wusste genau, warum man ihn hierher beordert hatte.
Ein paar Stunden zuvor hatte er die Beherrschung
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