Schattentraeumer - Roman
und ihre jüngste Tochter vom Lärm des Geschützfeuers und der Panik derDorfbewohner aus dem Haus getrieben worden. Türkische Stiefel marschierten über zyprische Erde, Nachbarn schrien sich gegenseitig
zu, dass man die Flucht ergreifen müsse. Lenya konnte dem Schrecken, den alle um sie herum verspürten, den Geschichten von
blutigen Morden und Vergewaltigungen nichts entgegensetzen und griff nach Erados kleiner Hand, um mit ihr dem allen zu entkommen.
Während sie davonrannte, hatte Lenya das Gefühl, ihr Herz werde vor Scham zerdrückt. Aber Erado war erst sechs Jahre alt,
sie musste von ihrer Mutter beschützt werden. Irgendwo war Andreas bei Niki, und sie glaubte daran, dass die beiden schon
vor ihnen geflohen waren – zu zweit waren sie sicher.
Sie musste nur Geduld haben, bald würden sie sich in den Armen liegen. Wenn Lenya sich in diesem Zelt umschaute und die verwitwete
Frau sah, die auf dem Feldbett neben ihnen saß, und den apathischen alten Mann, der sich den Erinnerungen an seine Söhne hingab,
wusste sie, dass sie Glück gehabt hatten. Doch wenn sie dann auf ihre jüngste Tochter blickte, fand sie keine Worte, um zu
erklären, weshalb.
Seit dem Tag ihrer Ankunft im Flüchtlingslager war Lenya über die verbrannte Erde gelaufen und hatte laut über das Wehklagen
der Vertriebenen hinweg nach ihrer ersten Tochter und ihrem Ehemann gerufen. Sie hatte die Blicke der Kinder gemieden, die
das Ödland mit vor Schreck geweiteten Augen durchstreiften. Sie war umgeben von Witwen und Waisen, von Eltern, die ihre Kinder
verloren hatten, und Menschen, welche die schlechten Nachrichten nur noch nicht empfangen hatten. Ab und zu kamen Fernsehteams,
um das Leid einzufangen; Mitarbeiter des Roten Kreuzes nahmen die Namen der Flüchtlinge auf und suchten nach den Namen anderer
auf ihren Listen. Als die Sonne hoch am Himmel stand, gab Lenya die Suche vorübergehend auf und reihte sich in die Schlange
der zerlumpten Gestalten ein, die auf das Essen warteten, das in Plastikbehälter und Eimer geschüttet wurde. Für Frauen, die
ihr ganzes Leben damit zugebracht hatten, ihre Familien aus der Küche heraus zu behüten,war dies eine grausame Demütigung, und Lenya hätte sich am liebsten auf die Knie fallen lassen und um Erbarmen gerufen, wenn
sich nicht alle anderen in derselben Lage befunden hätten.
Über drei Wochen nach der Invasion setzten sich endlich auch Vertreter der griechischen und der türkischen Gemeinschaft mit
an den Verhandlungstisch in Genf, wo sie die Gelegenheit nutzten, sich gegenseitig mit Anschuldigungen über Gräueltaten und
Geiselnahmen zu überhäufen. Während die Gespräche nur äußerst zäh vorankamen, brachen die türkischen Truppen von ihrem Brückenkopf
aus auf und rückten nach Osten, Westen und Süden vor. Der türkische Außenminister erklärte daraufhin gegenüber Reportern:
»Die Diplomatie schweigt, nun sprechen die Waffen.«
Vom Morgengrauen an fegten türkische F-4-Phantom-Jets über Zypern. Sie konzentrierten ihre Angriffe auf Lefkosia und Ammochostos.
Mehr als dreihundert Panzer rollten von Keryneia aus gen Süden und nahmen Mia Milea, Kythrea und Chatos ein. Gedeckt von unaufhörlichen
Luftangriffen, Seebombardements und Artilleriefeuer, bewegten die Türken ihre Streitkräfte so, dass sie das nördliche Drittel
vom Rest der Insel abschnitten. Bis zum Mittag wurden die griechisch-zyprischen Truppen aus der Hauptstadt sowie aus Ammochostos
abgezogen, nachdem Panzer Lücken in ihre Verteidigung geschossen hatten. Immer mehr Häuser und Fabriken brannten, je tiefer
die Türken in den Süden vorstießen. Riesige Rauchwolken stiegen über der Insel auf, und mit Matratzen und Koffern beladene
Autos reihten sich in zehn Kilometer langen Schlangen vor der Militärbasis Dhekelia, wo immer mehr Flüchtlinge Schutz suchten.
Die Türken rückten erbarmungslos weiter vor: Ihre Kampfflieger warfen 200-Kilo-Bomben über Stellungen der Nationalgarde ab,
nachts nahmen ihre Kriegsschiffe die Küstenstädte unter Beschuss. Innerhalb von zwei Tagen war die Insel verbrannt und lag
in Trümmern. Unkontrolliert schrie Dhespina sich ihre Wut aus dem Leib.
Wochenlang war sie ruhig geblieben im Angesicht der Katastrophe, die über sie hereingebrochen war. Sie hatte gewartet, sie
hatte gebetet, sie hatte aus dem Fenster gesehen. Doch nun verzehrte der Krieg alles, jede Hoffnung auf Rückkehr und auf ein
Entkommen wurde Lügen gestraft.
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