Schattentraeumer - Roman
auf ihre eigene Mutter zu, die
sich ihren Weg durchs Gewimmel bahnte.
Praxi nahm eine Tomate und den letzten Rest Schinken aus dem Kühlschrank. Sie gab ein wenig Salz und einen Spritzer Olivenöl
dazu und trug ihr Abendessen zusammen mit einem kleinen Glas Wein auf die Veranda. Eine warme Brise wehte träge vom Meer herauf
und umspielte den Saum ihres schwarzen Rocks. Sie fühlte sich an früher erinnert, an ihre Heimat.
Ein paar wenige Freuden des Lebens hatte Praxi sich dankbar bewahrt, und der Blick aufs Meer war eine davon. Auch wenn sie
sich in ihrem Alter zu sehr schämte, um noch in den Wellen zu tanzen, rührte deren Schönheit sie nach wie vor tief in der
Seele. Das Land und seine hässlichen Probleme mochten ihre Entschlossenheit ins Wanken bringen, aber das Meer enttäuschte
sie nie. Es war Leben, Seele, Energie und Freiheit. Praxi konnte nicht verstehen, wie Dhespina und ihre Familie es so lange
fern vom salzigen Hauch der Küste ausgehalten hatten. Es musste ein täglicher Kampf zwischen Hoffnung und Wirklichkeit gewesen
sein. Als sie dem Ruf der Küste schließlich doch nachgaben, war Georgios leider schon verstorben. Sein krankes Herz versagte
zwei Monate, bevor sie nach Lemesos zogen, und Dhespina blieb voller Schuldgefühle zurück. Sie machte sich Vorwürfe, die verschmutzte
Stadtluft nicht eher verlassen zu haben. Georgios war dem Tod seit Jahren nah gewesen, und alle hatten darauf gewartet, dass
die Heimat sie endlich zurückrief. Nachdem die Waffen schwiegen, standen Tausende Koffer griffbereit vor Haustüren und Zelteingängen.
Erwartung lag in der Luft. Es war nur noch eine Frage der Zeit, da waren sich alle sicher. Als dann aus Wochen Monate wurden,
schob man die Koffer wortlos unter die Betten. Und als Monate sich schließlich in Jahre verwandelten, räumte man sie endgültig
beiseite. Von nun an blieben sie versteckt, aber nicht vergessen.
Wir vergessen nicht.
Ohne Geld und ohne Aussicht auf ein Einkommen vergingen Jahre, bevor Praxi ihre eigenen vier Wände bezog. Die Zweizimmerwohnung
war ein Geschenk der Regierung. Es warnicht so, wie sie es von früher kannte, aber es war besser als das, womit sie sich in der Zwischenzeit hatte zufriedengeben
müssen. Sie wusste natürlich, dass sie sich glücklich schätzen konnte: Noch heute wurden ihre Augen feucht vor Dankbarkeit,
wenn sie daran dachte, wie Irene, die Tochter des alten Televantos, sich um sie gekümmert hatte.
In den ersten schrecklichen Monaten hatten Praxi, Elena und Elpida im Schlafzimmer von Irenes Kindern gesessen und auf ihre
Abreise gewartet. Als klar wurde, dass Keryneia für sie verloren war und sie offiziell als »vertrieben« galten, hatte Irenes
Ehemann den Schuppen ausgeräumt und so bequem wie möglich eingerichtet, bis eine andere Lösung gefunden war. Im Laufe der
Jahre erlaubten Beihilfen der Regierung die Anschaffung einer Küchenzeile und eines Badezimmers, doch ihr Zuhause blieb ein
Schuppen, in dem sie beengt lebten, bis Elpida schließlich das Nest verließ und zu Jason nach England davonflatterte. Natürlich
folgten Praxi und Elena ihr, aber sie hatten Rückflugtickets in ihren Handtaschen, und es hielt sie gerade einmal zwei Wochen
unter dem grauen, freudlosen Himmel dieses Landes.
»Kein Wunder, dass sie es auf unsere Insel abgesehen hatten«, brummte Elena, als der fünfte Regentag in Folge jede Ferienlaune
dämpfte, die sie verspürt haben mochte. »Hier ist es ja erbärmlich.«
Praxi konnte ihrer Mutter zwar nicht widersprechen, doch kein noch so strahlender Sonnenschein hätte die Trübsal aus ihren
Herzen vertreiben können, als sie den glücklichsten Tag in Elpidas Leben feierten. Es war nicht zu leugnen: Die Vereinigung
dieses Paares wurde durch eine Trennung überschattet. Weder die Dramatik der Braut noch die behutsamen Überredungskünste ihres
frischgebackenen Ehemanns vermochten Praxi und Elena zum Bleiben zu bewegen. Die Frauen weigerten sich schlichtweg, zuzulassen,
dass die Türken sie noch weiter von ihrer Heimat fortdrängten, also verbargen sie ihren Kummer und erklärten dem jungen Brautpaar,
sie seien zufriedenmit dem, was sie hätten. Selbstverständlich war das gelogen, und daran zweifelte niemand. Sechs Monate, nachdem Praxi die
Schlüssel zu ihrem neuen Zuhause überreicht bekommen hatte, verstarb ihre Mutter.
Mit einem müden Seufzer erklärte sie ihrer Tochter: »Es tut mir leid, Praxi
mou
, aber mir gefällt es
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