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Schattentraeumer - Roman

Schattentraeumer - Roman

Titel: Schattentraeumer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Busfield
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und Schatztruhen schweifen, die Marios und seine Neffen in ihrer Werkstatt in Lemesos liebevoll gefertigt hatten. Für
     das Möbelgeschäft in Lefkosia schufen sie die größeren, wertvolleren Gegenstände. Der Familienbetrieb hatte klein angefangen,
     sich aber dank Carinas Geschäftstüchtigkeit und einem großzügigen Darlehen ihrer Eltern zu einem florierenden und angesehenen
     Unternehmen entwickelt. Christakis wäre über alle Maßen stolz gewesen.
    Praxi schaute auf ihre Armbanduhr. Es war sieben Uhr abends und damit später, als sie geplant hatte. Sie lehnte die Tafel
     gegen die Wand und hastete über das Kopfsteinpflaster derkleinen Gasse, vorbei an Tavernen, in denen sich Menschen mit sonnenverbrannten Körpern tummelten, bis sie die überfüllte
     Straße erreichte. Dort hatten die jüngeren Leute bereits mit dem Singen begonnen.
    Praxi empfand die Touristen als lästig und noch dazu als unpassend gekleidet. Dennoch musste sie zugeben, dass sie die Republik
     gerettet hatten. Nachdem die Türken ihre Stiefel in den Norden gerammt und sich auf diese Weise zwei Drittel des bebauten
     Landes und sechzig Prozent der Wasservorräte, Minen und Bergwerke unrechtmäßig angeeignet hatten, hatte sich die rechtmäßige
     Regierung den Urlaubern zugewandt. Die Risse der Verzweiflung wurden mit Plakaten der barbusigen Aphrodite über dem kristallklaren
     Mittelmeer zugekleistert, um Ausländer ins Land zu locken. Bis Mitte der achtziger Jahre waren Hunderte Wohnblocks, Restaurants,
     Bars und Hotels aus dem Boden geschossen, um dem Zustrom an Brieftaschen gerecht zu werden. Und der Süden gedieh.
    Auch wenn Praxi wie alle anderen dankbar war für diese Lebensader, erschien es ihr doch auch befremdlich, dass die meisten
     Besucher Briten waren. Sie fragte sich, ob sich dahinter eine erstaunliche Bereitschaft zur Vergebung verbarg, eine kollektive
     Amnesie oder einfach nur eine Unkenntnis der Geschichte. Keiner der Gründe wäre nachvollziehbar für sie gewesen. Griechen
     kannten ihre Geschichte wie ihre Westentasche.
    Wir vergessen nicht.
    Als ihr Volk vor gut dreiunddreißig Jahren alles verloren hatte, kampierten die Menschen in den Häusern von Verwandten oder
     Freunden, in öffentlichen Gebäuden, Kirchen, Klöstern, Hütten, Zelten oder auf der Straße. Kleinere Orte wuchsen auf doppelte
     oder dreifache Größe an. Hilfsorganisationen flogen Nahrungsmittel und Medikamente ein. Die Spur menschlichen Elends, die
     von Norden heruntersickerte, verschlug einem den Atem. Flüchtlinge aus den Dörfern wurden kaltblütig hingerichtet, Männer
     wurden mit Kindern im Arm erschossen. Die Opfer verschwanden in Massengräbern. Soldaten,Schafhirten, Maurer, Klempner, Altersschwache, Einfältige – niemand blieb verschont. Die Gefangenen, die überlebten, wurden
     mit Fäusten, Füßen und elektrisch geladenen Knüppeln bearbeitet. Auf nackter Haut wurden Zigaretten ausgedrückt, Körper mit
     Messerstichen traktiert und mit Benzin übergossen. Gruppenvergewaltigungen zerstörten das Leben vieler Frauen – junger und
     alter, schwangerer und behinderter –, und als diese ihre Schande in den Süden schleppten, änderte die Regierung das Abtreibungsrecht.
    Einen Monat, nachdem der Norden verloren war, schlängelte sich eine Buskolonne durch Lefkosia. Sie brachte Kriegsgefangene
     nach Hause, und es schien, als hätte sich der gesamte griechische Teil Zyperns versammelt, um sie zu empfangen. Die Busse
     kamen schnaufend zum Halten, und Praxi hielt Dhespinas und Yianoullas Hände fest umklammert.
    »Kommt schon, kommt schon, kommt schon«, flüsterte Dhespina in ihr Taschentuch.
    Einer nach dem anderen stiegen die Männer aus, die von den Türken nach Adana ins Gefängnis verschifft worden waren, verwirrt
     und überwältigt von der Freiheit und der Menschenmenge, die sich zu ihrer Begrüßung eingefunden hatte. Als der vierte Bus
     seine Türen mit einem mechanischen Seufzen öffnete, warf Dhespina ihre Arme in die Luft und drängte sich gewaltsam durch die
     Masse nach vorn, um zu ihm zu gelangen.
    »Mein Sohn! Lasst mich durch. Mein Sohn ist gekommen!«
    Andere wartende Familien machten sogleich Platz, da sie Dhespinas Freude in all ihrem Neid und Elend nachempfinden konnten.
     Als Dhespina die freie Stelle vor dem Bus erreicht hatte, warf sie sich ihrem Jungen in die Arme, und er hob sie hoch in die
     Luft.
    »Mamma …«
    Christakis drückte Dhespina fest an sich. Hinter ihm stürmten seine beiden Söhne aus dem Bus

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