Schattentraeumer - Roman
warteten auf ihn. Er schüttelte den Kopf als Antwort auf die Frage, die er
in ihren Augen las. Seine Mutter nickte und berichtete ihm, dass Marias Mutter und Vater sicher eingetroffen waren und nun
in seinem Bett lagen, während Maria sich neben sie auf den Fußboden gelegt hatte. Michalakis freute sich für seine Frau und
hatte plötzlich das Bedürfnis, ihr das zu sagen.
Als er am nächsten Morgen ins Büro kam, wartete Praxi im Vorraum auf ihn. Michalakis führte sie in eins der Besprechungszimmer
und bat die Empfangssekretärin, ihnen Kaffee zu bringen. Er konnte ihr die Wahrheit nicht verschweigen und schilderte ihr,
was er wusste. Praxi brach in Tränen aus. Schluchzend erzählte sie schließlich ihre Geschichte: Sie begann mit einem Kuss
von Loukis und endete, nach einem Reifenwechselin Myrtou, mit der Fahrt nach Pissouri und der in ein altes Bettlaken gewickelten Leiche ihres Mannes im Kofferraum.
»Irene hat darauf bestanden, dass wir bei ihr bleiben, was sehr freundlich von ihr ist«, erklärte Praxi.
»Irene?«
»Die Tochter von Herrn Televantos.«
Michalakis stimmte zu, dass es tatsächlich sehr freundlich von Irene war, bot ihr aber trotzdem den letzten freien Platz auf
dem Fußboden seines eigenen Hauses an. Praxi schüttelte den Kopf und sagte, sie würden bleiben, wo sie waren, bis Loukis auftauchte.
Sie gab ihm eine Telefonnummer in Pissouri und sagte, dass sie am nächsten Tag wieder in sein Büro kommen werde, wenn er nichts
dagegen hätte – nur für alle Fälle.
»Wenn du irgendetwas brauchst …«, sagte Michalakis, als er sie die Treppe hinunterführte.
»Ich brauche nur Loukis«, beharrte sie und überließ ihn seiner Arbeit.
In der Redaktion schwirrten Neuigkeiten über Nikos Sampsons Abdankung durch den Raum. Der »Präsident« hatte sein Amt um vier
Uhr morgens niedergelegt. Wenige Stunden später wurde der Zusammenbruch der griechischen Militärregierung gemeldet, und die
Türkei stimmte einem Waffenstillstand zu.
Zehn Tage nach der Invasion wurden Friedensgespräche in Genf einberufen, zu denen die Außenminister Griechenlands, der Türkei
und Großbritanniens erschienen. Kein zyprischer Vertreter war anwesend, was Georgios dazu bewog, den Prozess als Betrug zu
verdammen.
»Eine Autopsie ohne Leiche, die von den Mördern selbst vorgenommen wird«, brummte er.
Herr Germanos räumte ein, dass er damit nicht ganz unrecht hätte, doch Marias Mutter zuckte ob der Anstößigkeit des Vergleichs
zusammen. Trotz seiner geäußerten Skepsis betete Georgios insgeheim, die Diplomaten möchten eine Lösung ausarbeiten. Er war
es leid, im Haus seines Sohnes wie eine Sardine inder Dose zu leben. Er wollte nach Hause. Und vor allen Dingen wollte er seine Jungs finden.
Dieses lähmende Eingesperrtsein machte ihn noch wahnsinnig. Er erhob sich vom Esstisch und ging ans Fenster. Draußen auf dem
Bordstein hielt seine Frau tröstend Praxi im Arm. Jeden Morgen kam Praxi in der Hoffnung auf eine Nachricht von Loukis in
die Hauptstadt, und jeden Abend kehrte sie mit leeren Händen in ihr temporäres Zuhause zurück. Sie hatte abgenommen, und statt
bunter Kleider trug sie nun das Schwarz der Trauer.
»Kannst du ihn noch spüren?«, wollte Praxi von Dhespina wissen.
»Ja«, antwortete seine Mutter, aber es klang wie eine Lüge. Möge Gott ihr beistehen, aber seit dem ersten Tag der Invasion
hatte der Tod ihr seine Hand drohend an den Hals gelegt. Die Stille, die aus dem Norden drang, war ohrenbetäubend. Es gab
weder Nachricht von Christakis noch von Loukis oder ihrer Schwester Lenya. Dhespina wusste nicht, wie lange sie noch gegen
die Sorgen würde ankämpfen können, die sich in ihr immer mehr ausbreiteten. Doch sie würde bis zu ihrem letzten Atemzug nicht
aufhören zu hoffen. Was ihr die Türken auch nahmen, sei es ihr Haus, ihre Würde oder ihr Leben, sie würden ihr nicht Loukis
nehmen, und sie würden ihr nicht Christakis nehmen. Ihre Söhne würden einen Weg finden. Sie würden zu ihr zurückkommen.
Während die Friedensgespräche weitergingen, stationierte die Türkei immer mehr Soldaten und Panzer auf der Insel und zog so
die Schlinge um den Norden immer enger zu. Unter dem Deckmantel des Waffenstillstands breiteten sich ihre Truppen immer weiter
über den Gebietsstreifen hinaus aus, den sie bereits besetzt hielten. Unter dem Gewicht der Zerstörung versank Aphrodites
Insel im Elend.
Am ersten Morgen der Invasion waren Lenya
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