Schattentraeumer - Roman
das bis eben in seinem Kopf gewütet hatte, war nun in Entschlossenheit und lodernden Zorn
umgeschlagen.
»Mein Name«, erklärte er laut und deutlich, »ist Mehmet. Und seit beinahe siebzig Jahren lebe ich in diesem Dorf und zähle
viele von euch zu meinen Freunden. Doch hier und jetzt schäme ich mich, euch auch nur als Nachbarn zu bezeichnen …«
»Jetzt pass mal auf …«, fiel ihm Kostas ins Wort.
»Nein, du passt auf, Kostas Mavrommatis!«, schoss der alte Mann zurück. »Dreihundert Jahre lang haben die Osmanendiese Insel regiert. Haben sie euch in all der Zeit das Leben schwergemacht? Nein – zumindest nicht anders oder mehr als ihren
eigenen Landsleuten. Haben sie gedroht, euch wie Tierfleisch am Spieß zu rösten? Nein, haben sie nicht. Haben sie euch vielmehr
gleich behandelt, wenn nicht gar anständig? Ja, das haben sie. Und haben sie euch nicht auch gestattet, eure eigene Religion
auszuüben? Ja, das haben sie. Doch all das zählt natürlich rein gar nichts angesichts der sogenannten Großen Idee. Ihr Griechen
redet immer davon, dass die Insel zum Mutterland gehört … Na, dann sagt doch mal, wann haben diese Küsten das letzte Mal die
zärtliche Umarmung ihres Mutterlandes gespürt? Seit Menschengedenken schlagen sich andere Invasoren um Zypern: zunächst die
Phönizier und dann eure griechisch sprechenden Achäer; danach herrschten über euch die Assyrer, die Mazedonier, die Ägypter,
die Perser, die Römer, die Byzantiner und die Sarazenen. Doch als die Briten 1878 ihre Zelte hier aufschlugen, gehörte die
Insel den Osmanen – ja, uns Türken! Wir haben den Briten die Insel verpachtet, habt ihr das vergessen? Und 1914 haben sie
das Gebiet einfach annektiert und euch Zypern vor eurer griechischen Nase weggeschnappt. Daher sage ich euch: Wenn jemand
das Recht hat, sich benachteiligt zu fühlen, und wenn jemand den rechtmäßigen Anspruch auf diese Insel hat, dann ist es mein
Volk, die Türken! Aber das könnt ihr natürlich nicht sehen, niemand von euch kann das, weil ihr von eurer eigenen Auffassung
von Ungerechtigkeit vollkommen verblendet seid. Und was noch schlimmer ist, ihr betrachtet all jene, mit denen ihr jahrhundertelang
zusammengelebt habt, nicht länger als Menschen, sondern als Tiere. Drum hört mir gut zu: Ich bin kein Tier, das darauf wartet,
von euch geschlachtet, gevierteilt und am Spieß geröstet zu werden. Ich bin ein Mensch. Ein Mensch aus Fleisch und Blut. Meine
Eltern, Großeltern und Urgroßeltern liegen unter dieser Erde begraben, und meine Kinder atmen diese Luft. Ich bin ein zyprischer
Türke, und wie ihr habe ich ein Herz und eine Seele. Und mehr noch, ich habe das Recht, zu leben. Habt ihr verstanden?Ich habe das
Recht
, zu leben! Und mein Name ist Mehmet Kadir.«
Stelios lehnte an einer Steinmauer und stopfte seine Pfeife. Er blickte ernst aus seinem narbigen Gesicht.
»Weißt du, ich dachte immer, ich könnte nie einen Türken umbringen, selbst wenn ich den Befehl dazu erhalten würde«, sagte
er. »Ich meine, ich verdanke es ja einzig und allein diesem türkischen Forstmann, dass ich heute überhaupt noch da bin. Aber
jetzt, nach dem, was sie getan haben, würde ich es ohne zu zögern tun.«
Loukis hörte seinem Freund stumm zu. Er dachte an Stavros’ Frau Pembe und daran, wie sie immer abergläubisch einen Eimer Wasser
hinter ihm ausgeschüttet hatte, wenn er ihr Haus verließ – ein Wunsch, die Reisenden mögen gehen und wiederkommen. Für Loukis
war das Bild der Frau, die er einst kannte, nicht vereinbar mit der Barbarei, die sich in Larnaka zugetragen hatte. Und ganz
egal, was Stelios sagte, für Loukis gab es keinen Grund, die alte Frau für die Sünden ihrer Brüder verantwortlich zu machen.
Den Berichten zufolge, die durchgesickert waren, hatte ein vor der Polizeiwache in Larnaka geparkter Ford Consul die Aufmerksamkeit
der Polizisten erregt, da aus seinen Türen eine dunkle Flüssigkeit getropft war. Im Wagen fand man die sterblichen Überreste
von drei ermordeten Griechen. Die Männer waren in Stücke zerhackt worden, man hatte ihnen die Geschlechtsteile abgetrennt
und in den Mund gestopft – ein grausames Ritual, mit dem ihre Seelen daran gehindert werden sollten, in den Himmel zu kommen.
»Na, komm, gehen wir was essen«, murmelte Loukis und lief quer über die Straße in den Wald hinein. Stelios stolperte hinter
ihm her. Mehr denn je spürte Loukis den Druck seiner Entscheidung, nach Hause
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