Schattentraeumer - Roman
Bildfläche erschienen, nachdem Gouverneur Foot infolge der Gleichgültigkeit, welche die
Vereinten Nationen bekundeten, sämtliche Forderungen nach
enosis
abgeschmettert hatte. Auf dem Friedhof in der Nähe von Pano Platres befand sich unter der obersten Erdschicht des Grabs von
Harris’ Urgroßvater ein kleines Versteck mit Revolvern, einem Gewehr sowie ein paar Schachteln Munition. Antoniou wollte,
dass man ihnen alles zu ihrem Schlupfwinkel brachte, und Stelios hatte sich nur allzu gern bereit erklärt, zu diesem Zweck
das lustwandelnde Liebespaar mit Toulla zu spielen. Für den Fall, dass ihnen irgendein britischer Soldat die Komödie nicht
abkaufen sollte, war Stelios mit einer Stange Woodbine-Zigaretten präpariert – was angesichts des Boykotts der EOKA darauf
schließen lassen musste, dass die beiden nicht mit den »Terroristen« sympathisierten.
Da Stelios inzwischen zum unverbesserlichen Pfeifenraucher geworden war, hatte er großzügig ein paar Zigaretten an Loukis
abgetreten. Und so saß der jüngste Economidou-Spross nun an seinem sonnigen Plätzchen, zündete sich eine Woodbine an und zog
genussvoll daran. Entspannt lehnte er sich in seinen Stuhl zurück, beobachtete, wie sich der Rauch durch die Luft schlängelte,und dachte dabei an Praxi und ob sie wohl für Victor Mature schwärmte. In all den Jahren, die sie zusammen verbracht hatten,
hatte sie den Filmstar nie erwähnt, doch Menschen veränderten sich mit der Zeit, und Loukis versteckte sich nun schon seit
über einem Jahr in den Bergen von Troodos. Vielleicht war Praxi inzwischen dick geworden – oder schrecklich dünn. Vielleicht
war sie tief gläubig oder ganz verrückt nach amerikanischer Rock’n’ Roll-Musik . Vielleicht wartete sie sehnsuchtsvoll auf seine Rückkehr. Vielleicht auch nichts von alledem. Das Einzige, was Loukis mit
Bestimmtheit wusste, war, dass er selbst sich in all den Monaten verändert hatte: Er war gewachsen, sein Körper war kräftiger
geworden, und er hatte sich von seinem Schmerz und seiner Enttäuschung erholt.
Als er damals gegangen war, hatte er nicht darüber nachgedacht, wie lange er eigentlich fortbleiben würde. Er hatte einfach
nur weggewollt – an einen Ort, wo niemand ihn kannte, wo er Raum zum Durchatmen und zum klaren Denken finden würde. Inzwischen
hatte sich das Chaos in seinem Kopf gelichtet, und seine Gedanken schweiften immer häufiger ab zu einer Stelle am Meer, wo
es nach Geißblatt und Zitrusfrüchten roch, und nicht nach Kiefern. Wo es Felsen gab und ihm der Kies am Strand unter den Füßen
kitzelte und durch die Zehen rutschte. Er sehnte sich danach, endlich wieder die Sonne auf seiner Brust zu spüren, die Wellen
im Licht funkeln zu sehen und seinen Körper davon überspülen zu lassen. Er sehnte sich nach allem, was sein früheres Leben
ausgemacht hatte, und vor allem sehnte er sich nach der Frau, die er liebte. Er war nichts ohne Praxi, lediglich ein Geist,
der seine Zeit verplemperte. Und auch wenn er sein Ziel, ein ganzer Mann zu werden, beinahe erreicht hatte, so fühlte er sich
doch nur als halber Mensch. Praxi steckte ihm nicht nur in jedem Muskel und in allen Knochen: Sie war sein Herz. Er konnte
kaum glauben, dass er es so lange ohne sie ausgehalten hatte, und er fragte sich, ob ihre Finger nachts im Dunkeln nach ihm
tasteten, so wie seine sie suchten.
Das füllige Gesicht in den Händen vergraben, saß Stavros auf einem umgestürzten Baum und versuchte nachzudenken. Die Welt
drehte sich einfach zu schnell, und er verstand sie nicht mehr. Anfang der Woche war er in Gönyeli gewesen, nachdem er erfahren
hatte, dass sein Neffe mitsamt Familie dorthin geflüchtet war. Sie hatten den Terror in Lefkosia einfach nicht mehr ausgehalten
und waren aus einem überwiegend von Griechen bewohnten Stadtteil geflohen, um Zuflucht in einem Dorf zu suchen, das vollständig
türkisch war. Derart groß war die Angst der Familie gewesen, dass sie von heute auf morgen ihr Zuhause verlassen und außer
ein paar Koffern und einer Handvoll Andenken alles zurückgelassen hatte, was sie besaß. Natürlich hatte sich Stavros’ Wut
zunächst gegen die Griechen gerichtet, die das Leben seiner Familie zerstörten, doch in den darauffolgenden Tagen musste er
bestürzt zur Kenntnis nehmen, dass die Mittel, zu denen seine eigenen Landsleute griffen, nicht besser waren. Während die
beiden Bevölkerungen einander den Rücken kehrten, blieb ihnen
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