Schattenturm
dieser Situation? Ich glaube, deine Mutter war wütend auf mich und braucht ein bisschen Abstand. Wir sagen den Leuten einfach, dass sie für ein paar Tage zu ihren Verwandten nach Paris gefahren ist. Okay?«
»Von mir aus. Aber warum sollen wir den Leuten so was erzählen?«
»Dadurch gewinnen wir Zeit. Deine Mutter kommt zurück, und ich kaufe ihr Blumen, gehe mit ihr essen, und alles ist wieder in Ordnung.«
Shaun musterte seinen Vater. »Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Doch.« Joe blickte aufs Telefon und spielte sekundenlang mit dem Gedanken, Frank anzurufen.
»Hör auf, mich wie einen Idioten zu behandeln.«
»Das tue ich nicht«, erwiderte Joe geduldig. »Ich versuche nur, Ruhe zu bewahren.«
»Auf mich wirkst du eher gleichgültig«, sagte Shaun.
»Du bist wütend«, entgegnete Joe freundlich. »Ich glaube, du suchst jemanden, auf den du einprügeln kannst.«
»Denk an Katie!«, schrie Shaun plötzlich los. »Was ist mit ihr? Denk daran, wie diese Sache ausgegangen ist! Da ist auch nichts passiert, nicht wahr? Nicht wahr?« Seine Stimme wurde immer lauter und schriller. »Und wenn Mom entführt wurde? Wir warten hier wie zwei Trottel …«
»Niemand hat deine Mutter entführt.«
»Und wenn doch?« Shaun hob den Blick, als wäre ihm soeben etwas eingefallen. »Könnte das mit der seltsamen Mail zu tun haben, die jemand mir geschickt hat?«
»Nein«, sagte Joe. »Sie kam von einem deiner Mitschüler, wie wir inzwischen wissen. Von diesem Burschen, der so gerne Krieg spielt.«
»Barry Shanley?«, fragte Shaun erstaunt.
»Genau der«, sagte Joe.
Frank rief Richie in sein Büro und bat ihn, die Tür hinter sich zu schließen.
»Ich muss dir was sagen.« Frank klärte Richie über Joes Besuch bei Dr. McClatchie und die Faxe auf, die er ihr gezeigt hatte.
»Wow«, sagte Richie. »Seltsam.«
Frank beobachtete wieder einmal, wie Richies rechtes Auge zu schielen begann. Der Sergeant spürte förmlich, wie es im Kopf seines Kollegen arbeitete. Er fragte sich, wie lange Richie brauchte, um die Information zu verarbeiten.
»Ich habe in Limerick angerufen und kurz mit dem dortigen Superintendent gesprochen. Ich treffe mich morgen mit ihm. Er macht Urlaub in einer Blockhütte in den Ballyhoura Mountains. Sie haben noch keine Spur. Mehrere Einwohner wurden überprüft, kommen als Täter aber nicht in Frage. Deshalb ist Dr. McClatchies Information über Lucchesis Besuch sehr interessant. Schau mal.« Er drehte die Straßenkarte um, damit Richie die Schrift lesen konnte.
»Niemand sieht eine Verbindung zwischen diesen Verbrechen, aber schau dir das hier mal an.« Frank schlug jenen Teil der Karte auf, auf dem die Südhälfte des Landes verzeichnet war. Er zog einen Kreis um Doon, an der Stelle, wo Mary Casey tot auf einem Feld aufgefunden worden war, dann um Tipperary, wo Siobhàn Fallon verschwunden war. Schließlich zog er einen Kreis um Mountcannon. »Diese Orte liegen alle an derselben Straße«, sagte er und schaute Richie an. »Ich glaube, Joe ist uns einen Schritt voraus. Und nachdem wir nun über diese Sache mit den Schnecken Bescheid wissen, müssen wir zugeben, dass er mit seiner Vermutung Recht hatte, was die Strecke angeht, die Katie in der Nacht ihrer Ermordung genommen hat, auch wenn Mae Miller etwas anderes ausgesagt hat. Dem müssen wir nachgehen. Denk daran – Joe hat uns übergangen und sich direkt an die Gerichtsmedizinerin gewandt.«
Richie nickte.
»Also verschweigt er uns etwas«, sagte Frank und warf seufzend den Stift auf den Schreibtisch. »Was man ihm allerdings nicht verübeln kann.«
26. STINGER’S CREEK
North Central Texas, 1990
Donnie tat so, als würde er auf ein schwarzes Brett schauen. »Ich suche eine Hausfrau«, rief er. »Die perfekte Hausfrau.«
»Ich lach mich tot.« Duke stand in einer grauen Jogginghose und mit gelben Gummihandschuhen auf dem Hof und wrang das schmutzige Wasser aus einem Geschirrtuch.
»So ein Scheiß«, sagte Donnie. »Dein Haus war mal weiß.«
»Du bist heute Morgen ja richtig mit Feuereifer bei der Sache.«
Donnie ging um den Wassereimer herum aufs Haus zu. Die linke Seite war schmutzig braungrau; die rechte Seite, die sie gereinigt hatten, war nun wieder so weiß, wie es ohne neuen Anstrich möglich war. Allerdings blätterte die Farbe ab, und auf der Wand waren Rinnsale des Schmutzwassers getrocknet und bildeten dunkle Linien und Streifen.
»Du musst das mit ’nem Schlauch abspritzen«, sagte Donnie.
»Ja, nachdem ich
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