Schattenturm
noch, wie ich auch mal weggelaufen bin«, sagte sie. »Ich habe meine kleine Tasche gepackt, einen Zettel für meine Eltern geschrieben und den Bus nach Paris genommen. Ich saß weinend mit meiner Freundin bei McDonald’s. Dann erzählte sie mir, dass sie und ihre Brüder von ihrer Mutter geschlagen wurden. Und ich erkannte, wie verrückt ich gewesen war. Meine Eltern liebten mich. Ich hatte ein wundervolles Zuhause. Ich wollte einfach nur wissen, wie es ist, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich wollte einmal unabhängig sein. Aber als ich es dann war, wollte ich nichts als zurück nach Hause.«
Martha lächelte und drückte Annas Hand.
»Ich bin sicher, auch bei Katie steckt nicht mehr dahinter. Ein junges Mädchen möchte sich von zu Hause abnabeln. Katie weiß, dass du sie liebst. Sie weiß, dass sie ein gutes Zuhause hat. Sie ist sechzehn und glaubt, schon auf eigenen Beinen stehen zu können. Doch sie wird schnell erkennen, dass es nicht so einfach ist.«
»Ich hoffe es«, sagte Martha, faltete ein Taschentuch auseinander und legte es wieder zusammen. »Ich weiß, dass ich ziemlich streng mit Katie war. Ich habe ihr verboten, bei Freundinnen zu schlafen, zu spät nach Hause zu kommen oder mit Jungen auszugehen. Bei Shaun habe ich eine Ausnahme gemacht. Katie wusste es nicht, aber ich habe sie und Shaun einmal auf dem Nachhauseweg von der Schule beobachtet, und da wusste ich sofort, dass ich keine Chance habe, sie auseinander zu bringen.«
Anna lächelte.
»Wenn ich Katie verboten hätte, sich mit Shaun zu treffen, könnte ich ja noch verstehen, dass sie weggelaufen ist. Aber so? Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.« Martha verstummte. »Bist du sicher, er weiß nichts?«
»Ganz sicher«, sagte Anna. »Er würde es uns sagen. Er macht sich schreckliche Sorgen und ist vollkommen fertig.«
»Tut mir Leid«, sagte Martha. »Ich hätte …«
»Schon gut.«
Martha lächelte und ging in die Küche, um frischen Tee zu kochen.
Anna lehnte sich auf dem Sofa zurück und atmete tief durch. Sie hätte Katie niemals zugetraut, von zu Hause wegzulaufen. Das passte einfach nicht zu ihr. Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die auf Abenteuer aus waren. Katie schien mit ihrem Leben zufrieden zu sein.
Das Telefon klingelte.
Katie?
Martha ließ das Tablett mit der Teekanne fallen und bespritzte ihre Beine mit heißem Tee. Sie nahm es kaum wahr und riss den Hörer hoch. Anna hörte sie leise sprechen.
»Nein. Sie hat eine Jeans getragen, Frank, ganz sicher. Eins von diesen weiten Dingern … Ja, die anderen Sachen stimmen.«
Sie legte auf und ging niedergeschlagen ins Wohnzimmer zurück.
»Jemand hat am Samstag nach Katies Verschwinden ein Mädchen in einem pinkfarbenen Kapuzenpullover gesehen … ein Mädchen, das getrampt ist. Aber sie trug eine Laufhose. Sie wollten nur überprüfen, ob ich mich geirrt haben könnte, was Katies Kleidung betrifft.« Sie setzte sich. »Ich habe nichts dagegen, wenn sie mich wegen so was anrufen, aber jedes Mal, wenn das Telefon klingelt, bekomme ich fast eine Herzattacke.«
Anna schaute auf die Teespritzer auf Marthas Beinen.
»Nichts passiert«, sagte Martha. »Meine Mutter konnte mit bloßen Händen Eier aus kochendem Wasser und Würstchen aus dem Grill nehmen. Starke Frauen in unserer Familie.«
Plötzlich brach sie in Tränen aus. Anna reichte ihr ein Taschentuch, setzte sich auf die Sesselkante und legte tröstend einen Arm um Marthas Schultern.
»O Mann«, rief Ali, als sie die Treppe zu Shauns Zimmer hinunterstieg. »Katie ist mir ganz schön was schuldig.«
»Warum?«, fragte Shaun.
»Wegen einer total blöden Geschichte. Dieser Typ, der in der Sache ermittelt, Detective O’Connor … er war bei mir, um mit mir zu reden. Plötzlich sagte er: ›Ich weiß, dass du kiffst.‹«
»Und was hast du geantwortet?«
»Stimmt, hab ich gesagt. Aber es ist ja nicht so, als wären meine Venen schon zerstochen oder so, oder als würde ich mir ’nen Schuss in ’ner Telefonzelle setzen.«
Shaun schüttelte den Kopf. »Das ist ja krass.«
»Die vermuten, dass Katie in eine Unterweltaffäre verstrickt ist. Echt ätzend. Ich würde laut lachen, wenn ich nicht so ’n Schiss hätte. O’Connor hat mich auch nach Freaks aus dem Internet gefragt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ein richtiges Irrenhaus.« Ali warf sich auf die Couch und stöhnte. »Wo bist du, Katie, du böses, böses Mädchen?«
Joe klopfte leise an die Tür. »Shaun? Ali?«, sagte er. »Robert?«
»Komm rein«,
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