Schattenturm
Deegan und etwa dreißig Polizisten, die in Waterford im Mordfall Katie Lawson ermittelten. »Okay, Leute. Hört zu. Bisher haben wir folgende Erkenntnisse: Der Todeszeitpunkt stimmt mit dem Zeitpunkt von Katies Verschwinden überein. Es könnte dennoch sein, dass sie vor ihrer Ermordung ein paar Tage festgehalten wurde. Die weit fortgeschrittene Verwesung der Leiche macht die Bestimmung des Todeszeitpunkts sehr schwierig, wie ihr alle wisst. Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Katie woanders getötet wurde und der Täter ihren Leichnam aus einem bestimmten Grund am Fundort abgelegt hat. Der Tod wurde entweder durch Strangulation oder durch Schläge auf den Schädel herbeigeführt, vermutlich mit einem Stein. Wir können auch eine Vergewaltigung nicht ausschließen. Dass dem Opfer Slip und Jeans ausgezogen wurden, deutet jedenfalls darauf hin. Am Tatort wurde kaum etwas gefunden, das uns bedeutsam erscheint. Hautpartikel und bisher nicht identifizierte Splitter, die wir im Schädel des Mädchens gefunden haben, wurden ans Labor geschickt. Wir werden die Ergebnisse umgehend bekommen. Vorerst setzen wir unsere Vernehmungen fort. Außerdem suchen wir nach Fahrzeugen, die in der Gegend um den Fundort der Leiche gesehen wurden. Und wir werden versuchen, weitere Zeugen zu finden, wobei uns die Medien helfen. Daneben kümmern wir uns um den Freund des Mädchens, Shaun Lucchesi. Wir wissen, dass sein Vater Joe, ein ehemaliger Detective aus New York, den Tatort in der vergangenen Nacht aufgesucht und möglicherweise Beweisstücke beseitigt hat, die wir bei unserer ersten Suche übersehen haben könnten.«
Aus der Stereoanlage des Wagens erklang ein Schmusesong von Gainsbourg. Joe stellte die Musik ab und fuhr ohne Ziel über die Straßen. Er verspürte Übelkeit und eine heftige Wut auf etwas, auf das er keinen Einfluss hatte – einen wilden, irrationalen Zorn, der an der Situation nichts änderte.
Anna hatte ihn betrogen.
Unerträgliche Gedanken und Bilder schossen ihm durch den Kopf. Joe war immer stolz auf seine Ehe gewesen, wo so viele Beziehungen in die Brüche gingen, während er nach Hause zu seiner hübschen Frau zurückkehren konnte, auf deren Liebe und Treue stets Verlass war. Jetzt aber standen sie genauso da wie die anderen: desillusioniert, betrogen, wütend, schuldig und verletzt.
Am Ende des Pfades, der zu Millers Obstplantage führte, hielt Joe hinter dichten Sträuchern, stellte die Sitzlehne zurück, legte den Kopf auf die Stütze und schloss die Augen. Plötzlich hörte er in einiger Entfernung jemanden husten. Er blickte auf und sah John Miller über den Pfad schlurfen. Dann blieb Miller stehen und klopfte mit zwei Fingern eine Zigarette aus einer Schachtel. Joe versuchte sich vorzustellen, wie dieser Mann vor siebzehn Jahren ausgesehen hatte, als Anna mit ihrem Verlobungsring am Finger für zwei Wochen nach Irland geflogen war. Sie war jung gewesen, gerade mal einundzwanzig. Joe hatte sie zum Flughafen gebracht und nach dem Abschied vor Schmerz geweint.
Und Anna war zu diesem John Miller geflogen!
Joe beobachtete, wie der Mann sich die Zigarette anzündete. John Miller war groß und breit, hatte im Lauf der Jahre aber mehr als vierzig Pfund zugenommen und seine einst athletische Figur verloren. Aus Miller war eine jämmerliche Gestalt in einer ausgebeulten grauen Hose, zerknittertem Hemd und billigen Schuhen geworden. Und das schmerzte fast noch mehr.
Katie hätte gegen einen so großen, schweren Mann keine Chance gehabt, auch wenn er körperlich nicht in Form war. Sein Gewicht allein reichte aus. Und John Miller war ein verbitterter Mann. Anna konnte er nicht haben, und darum hatte er sich vielleicht an einen Menschen herangemacht, der ihr nahe stand, ein junges Mädchen, das fast in dem Alter war wie Anna damals …
Miller musste nur eine Meile laufen, um den Verkehr von und nach Shore’s Rock zu beobachten. Und Katie hätte keinen Grund gehabt, ihm zu misstrauen. Vermutlich hätte der Kerl ihr sogar Leid getan.
Joe wartete, bis John Miller an den Sträuchern vorbei war; dann ließ er den Motor an und fuhr davon.
Anna trat aus dem Haus und ging den Weg hinunter, als sie die Hupe hörte. Ray stieg aus dem Lieferwagen und ging um den Wagen herum zur Hecktür.
»Hi, Ray«, sagte Anna.
»Hallo, Anna. Ich habe die Segmente mitgebracht und kann sie sofort in die Lücken einpassen, wo wir die verrosteten Stellen rausgeschnitten haben. Wie wär’s?«
»Das ist phantastisch«,
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