Schattenturm
oder verließen.
»Was meinst du?«, fragte Anna und legte Joe eine Hand auf den Arm. »Wir könnten ein paar Jugendliche übers Wochenende einladen, um ihnen über die Trauer hinwegzuhelfen …«
Joe schüttelte stumm den Kopf. Seit heute Morgen hatte er Anna nicht mehr in die Augen geschaut. Er behandelte sie wie Luft. Nur Shaun zuliebe erlaubte er ihr heute, an seiner Seite zu sein – und wegen der Nachbarn, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Und vielleicht auch, um John Miller eins auszuwischen.
Hässliche Bilder von Miller und Anna gingen ihm durch den Kopf. Er fragte sich, ob diese Sache wirklich eine so große Bedeutung hatte; immerhin war es fast zwanzig Jahre her. Doch er wusste, dass seine Liebe zu Anna es ihm unmöglich machte, einfach über diese Affäre hinwegzusehen.
Joe fröstelte. Er spürte Annas Blick auf sich ruhen. Sein Kopf dröhnte. Die Schmerzen im Kiefer hatten sich in ein rhythmisches Pochen verwandelt.
Martha Lawson saß in der Leichenhalle vor dem Sarg ihres einzigen Kindes, als der Trauergesang einsetzte.
»Heilige Maria voller Gnaden, der Herr ist mit dir, gesegnet seiest du …« Ältere Frauen ließen Rosenkränze durch ihre Finger gleiten und sprachen mit gesenkten Köpfen ihre tröstenden Gebete. Gruppen verstörter Jugendlicher in grauen Schuluniformen murmelten jene Verse mit, die sie kannten, denn seltsamerweise tröstete sie dieses Ritual. Immer wieder glitten ihre Blicke zu dem Eichensarg, der auf der anderen Seite der Halle stand und in bedrückender Endgültigkeit geschlossen war.
Mit aschfahler Miene und trüben, ausdruckslosen Augen lehnte Martha Lawson an der Schulter ihrer Schwester Jean. Sie glaubte an die Worte des Rosenkranzes, die sie sprach, weil sie an Gott glaubte, an die Gebete und an die Güte der Menschen. Kein Mörder würde ihren Glauben erschüttern. Dennoch konnte sie es nicht begreifen. Sie wusste nicht, warum sie innerhalb von acht Jahren zum zweiten Mal hier saß, und wieder als die Haupttrauernde. Zuerst hatte sie ihren Ehemann durch Krebs verloren, und jetzt war ihre Tochter einem Mord zum Opfer gefallen. Sie starrte auf den Sarg und konnte es nicht fassen, dass Katies geschändeter Leichnam in dieser Holzkiste lag.
Als die Gebete beendet waren, strömten die Menschen auf die Straße, wo ein Leichenwagen wartete, um den Sarg zur Kirche zu fahren. Pater Flynn, der alte Gemeindepfarrer, leierte lustlos seine Predigt herunter, ohne Wärme zu finden. Stattdessen waren seine Worte nichtssagend und hohl.
Martha tröstete sich mit dem Gedanken, dass am nächsten Tag ihr Vetter Michael aus Rom kommen würde, um die Messe zu lesen. Und Michael, ebenfalls Geistlicher, fand immer die richtigen Worte.
Auf dem Rasen vor dem Leuchtturm brannten lange Holzpfähle, die in einer Reihe aufgestellt waren. Brendan, der Fotograf, den die Vogue engagiert hatte, stand mit einem Belichtungsmesser davor.
Joe blickte Anna an.
»Ich konnte nichts machen«, sagte sie. »Brendan ist schon vor Wochen engagiert worden.«
»Ich weiß«, sagte Joe.
»Ich werde heute Abend da sein«, versprach Anna. Am nächsten Morgen kämpfte die aufgehende Sonne gegen Frühnebel und Kälte. Die Trauernden strömten in die kleine Kirche am Rande des Dorfes. Die Glocken läuteten, und die Kirchenbesucher erhoben sich, als Pater Michael mit zwei Messdienern vor die Trauergemeinde trat.
»Nehmt Platz«, sagte er ins Mikrofon, ließ den Blick über die Versammelten schweifen und begann mit ruhiger Stimme: »Im Angesicht dieser Tragödie möchten wir der Familie und den Freunden von Katie Lawson unser Mitgefühl bekunden. Aber noch wichtiger ist, dass wir sie ermutigen. Wir können Menschen in ihrem Glauben bestärken, stark füreinander und stark für Katie zu sein. Das wäre ihr Wunsch gewesen. Ich weiß, dass die Lieder, die ihr Freund Shaun und ihre Schulfreunde ausgewählt haben, bejahende Lieder sind, Lieder der Hoffnung und der Ermutigung.
Es gibt viele Gründe, warum wir uns heute hier versammelt haben. Wir möchten unsere Liebe zu Katie bekunden und unseren Wunsch zum Ausdruck bringen, Martha, ihre Familie und Shaun zu unterstützen. Wir möchten unserem Glauben und unserer Hoffnung Ausdruck verleihen. Wir sind aber auch hier, weil keiner von uns begreifen kann, was geschehen ist. Wie kann ein sechzehnjähriges Mädchen, das voller Lebensfreude war, das so viel zu geben hatte und so viel gab, auf eine so schreckliche Weise von uns genommen werden? Wie viel Hass muss im Herzen eines
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