Schattenturm
Kehle, als die Todesnachricht eingetroffen war. Sie waren die ganze Nacht bei Shaun geblieben, bis er schließlich eingeschlafen war. Seitdem war der Junge nicht zu ihnen heruntergekommen.
Joe hielt Anna in den Armen, bis ihre Lider schwer wurden und ihr Atem langsamer ging. Dann küsste er sie auf die Stirn, schob ihr vorsichtig ein Kissen unter den Kopf und ließ sie allein. Bevor er leise aus dem Haus schlich und in den Wald fuhr, griff er rasch in die Kommode neben der Eingangstür und zog die Taschenlampe heraus.
Der rothaarige Oran Butler hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und die Füße auf den Couchtisch gelegt. Von einem Teller schaufelte er sich gebackene Bohnen in den Mund. Richie kam aus der Küche.
»Du bist ein Chaot, Butler«, schimpfte er. »Hier sieht’s aus wie in ’nem Saustall. Könntest du nicht wenigstens …«
Oran hob eine Hand, um Richie zu unterbrechen. »Ich bin todmüde. Fang nicht schon wieder an.«
Sie hatten gemeinsam ihre Ausbildung bei der Polizei absolviert und teilten sich nun eine Wohnung in der Waterford Road, zehn Autominuten vom Dorf entfernt. Oran arbeitete mit fünf Kollegen im Drogendezernat in Waterford.
»Was macht die Arbeit?«, fragte Richie.
»Immer dasselbe. Wir versuchen, die Hurensöhne zur Strecke zu bringen. Freitag in einer Woche holen wir zum großen Schlag aus und machen eine Razzia in einem Teppichlager im Industriegebiet Carroll. Ein Überraschungsangriff. O’Connor macht sich fast in die Hose. Dabei könnte es seine große Stunde sein.«
Oran riss eine Bierdose auf und blickte auf Richies Glas. »Mineralwasser. Wie traurig.«
»Halt die Klappe, Feuermelder«, sagte Richie.
»Sehr originell«, sagte Oran. »Kannst mich auch gleich ›Sommersprosse‹ nennen, wenn du schon dabei bist.« Er trank einen Schluck aus der Dose, grinste und hielt sie Richie hin. »Auch einen Schluck?«
Joe hätte den Weg noch ein Stück weiter fahren und dann zu Fuß zur Fundstelle des Leichnams gehen können, befürchtete jedoch, dass irgendetwas seiner Aufmerksamkeit entgehen könnte. Die Batterien der Taschenlampe waren fast leer. Nur ein schwacher Lichtstrahl wies ihm den Weg. Als Joe dichtes, hohes Gestrüpp überwinden musste, fragte er sich, wie der Täter es geschafft hatte, Katie – ob tot oder lebendig – in dieses Unterholz zu schleppen.
Fünfzehn Minuten später sah er die zerfetzten Überreste des blau-weißen Absperrbandes an einem Baum flattern; zwanzig Meter weiter hing noch ein Stück an einem Baumstamm. Joe blickte sich aufmerksam um, ließ den blassen Lichtstrahl der Taschenlampe über die Erde gleiten und suchte die Stelle, wo die Leiche gelegen hatte. Langsam ging Joe dorthin, legte die Taschenlampe neben sich auf die Erde und hockte sich hin. Er zog einen Stift aus der Jacke und wühlte damit in den Blättern auf dem Waldboden. Ein winziger Fund erregte seine Aufmerksamkeit. Er nahm ihn behutsam mit Daumen und Zeigefinger auf und hielt ihn ins Licht der Taschenlampe. Es handelte sich um einen papierdünnen, fünf Millimeter langen, rotbraunen Zylinder, der an einem Ende spitz zulief und am anderen Ende abgebrochen war.
Joe wusste, was es war, aber nicht, was es zu bedeuten hatte.
14. STINGER’S CREEK
North Central Texas, 1984
»Aus den Augen, aus dem Sinn!«, rief Onkel Bill lachend, als er Duke sah, der auf der Veranda hinter dem Haus stand und nach ihm Ausschau hielt.
Duke blickte sich um und suchte nach dem Besitzer der Stimme.
»Hier bin ich! Hier oben!« Bill winkte mit beiden Armen.
»Hey, du hast mich reingelegt«, sagte Duke lächelnd. »Neuer Tarnanzug?«
»Ja«, sagte Bill. »Die alten Sachen waren ausgeblichen. Und es geht ja nicht an, dass das Rotwild mich sofort sieht.« Er schlug mit der Hand auf das Holz. »Und ich habe einen neuen Hochsitz«, sagte er. »Hoch und prächtig.« Er lachte. »Sie werden nicht wissen, wie ihnen geschieht.«
»Hast du schon Pläne?«, fragte Duke.
»Ja. Ich fahre mehrmals die Woche nach Uvalde runter, um alles für die Eröffnung der Jagdsaison vorzubereiten.«
Er kletterte vom Hochsitz herunter und klopfte Duke auf den Rücken.
»Ich muss dafür sorgen, dass alles in Ordnung ist, bevor die Jagdsaison beginnt. Wie geht es deiner Mom?«
Duke wusste, dass Onkel Bill nicht gut mit seiner Mutter auskam.
»Der geht’s prima.«
»Freut mich«, sagte Bill und betrachtete seinen Bogen.
»Könntest du mir beibringen, mit einem Bogen zu schießen?«, fragte Duke. Bill hob den
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