Schattenturm
Menschen schwelen, um ein so grausames Verbrechen zu begehen?«
Er verstummte. Die einzigen Geräusche, die in der Stille zu hören waren, stammten von den Journalisten in den hinteren Reihen, die sich eifrig Notizen machten.
»Vielleicht werden wir es niemals erfahren«, fuhr Michael fort, und einige Blicke wandten sich Frank Deegan und Richie Bates zu. »Aber wir wissen, dass wir dem Hass keinen Einlass in unsere Herzen gewähren dürfen. Denn der Hass lässt uns leiden. Unsere Herzen aber sollen von Liebe und Güte erfüllt sein, so wie Katies Herz es war.«
Joe, der die anderen Sargträger an Größe überragte, krümmte den Rücken, damit alle sechs Männer ihre Arme gerade auf die Schultern des anderen legen und den Sarg aus der Kirche tragen konnten. Der Trauerzug schritt hinterher, angeführt von Martha, die auch als Erste vor die Grube trat, in die der Sarg dann hinuntergelassen wurde.
Schließlich stand auch Shaun vor dem Grab. Es gelang ihm nicht, zwischen dem Menschen, den er geliebt hatte, und dem, was hier geschah, eine Verbindung herzustellen. Dass Katies Körper nun kalt und leblos in dem Erdloch lag, war ein Gedanke, den der Junge nicht verarbeiten konnte.
Er kämpfte gegen die Tränen an, als er mit zitternder Hand eine weiße Rose auf den geschliffenen Deckel des Sarges warf.
Nach der Beerdigung versammelten sich die meisten Trauergäste in Martha Lawsons Haus. Schon am frühen Morgen hatten Nachbarn einen Imbiss und Getränke vorbereitet.
Mit Teetassen und Sandwiches in den Händen standen Richie und Frank in einer Ecke der Eingangshalle.
»Dürfte ich kurz stören?«, fragte Joe.
»Worum geht’s denn?«, erwiderte Frank, ohne den Blick zu heben.
»Ich möchte euch kurz erklären, was ich meine«, sagte Joe und zog eine Karte hervor. Als er seine Theorie über Mae Millers Aussage vorgebracht hatte, fragte Richie: »Woher wissen Sie, dass die anderen Nachbarn nichts gehört haben?«
»Weil ich da gewesen bin und sie gefragt habe«, erwiderte Joe.
»Sie sollten sich aus unseren Ermittlungen heraushalten!«, sagte Richie wütend, senkte dann aber rasch die Stimme. »Es steht fest, dass Katie den Friedhof nicht aufgesucht hat, dass sie auf ihrem üblichen Heimweg an Mae Millers Haus vorbeikam und dass dann ihre Leiche, unter Laub begraben, auf Ihrem verdammten Grundstück wieder auftauchte!«
»Der Wald ist öffentliches Gelände, Sie verbohrtes kleines Arschloch«, sagte Joe, schüttelte den Kopf und ging davon. Richie schäumte vor Wut. Bevor es zu Handgreiflichkeiten kommen konnte, griff Frank ein. »Entspann dich, Richie.«
»Wie habe ich das denn zu verstehen?«
»Du drehst immer gleich durch. Das darf dir in unserem Job nicht passieren. Nächstes Jahr gehe ich in Rente, und ich will nicht, dass die Stimmung im Dorf sich in meinen letzten Dienstmonaten aufheizt.«
»Ja, du bist bald weg. Aber dann bin ich immer noch hier. Meine Arbeit bedeutet mir sehr viel, und ich will nicht, dass ein ungelöster Fall auf meinen Schultern lastet. Mit diesem verdammten Lucchesi und seinem Sohn stimmt was nicht, so wahr ich hier stehe.«
»Wo du stehst, Richie, wurde soeben ein junges Mädchen beerdigt. Denk daran und reiß dich zusammen.« Frank trank einen Schluck Tee. »Auch wenn du Joe Lucchesi nicht über den Weg traust, müssen wir unseren Job vernünftig machen. Und noch etwas. Mir ist es lieber, mit einem ungelösten Fall zu leben, als mein Gewissen mit einer falschen Verurteilung zu belasten. Die Ermittlungen werden von Waterford aus geleitet. Deine weitere Karriere bleibt davon unberührt.«
»Aber …«
»Hör mir zu. Du musst lernen, geduldig zu sein. Du kannst die Leute nicht ständig vor den Kopf stoßen. Vergiss nicht, dass schon unser Job nicht gerade die ideale Basis für ein gutes Verhältnis mit der Bevölkerung ist. Außerdem haben die Leute nicht mehr so viel Respekt wie früher. Als ich in Templemore meine Ausbildung gemacht habe, hat einer der Detectives gesagt: ›Wenn du die Straße runtergehst und an jeden Wagen einen Strafzettel steckst, hält die ganze Stadt dich für einen Scheißkerl. Wenn du die Straße runtergehst und keinen Strafzettel verteilst, hält die ganze Stadt dich ebenfalls für einen Scheißkerl.‹ Es liegt an uns, allen zu zeigen, dass wir keine Penner sind. Ich habe mich immer um ein gutes Verhältnis zu den Leuten bemüht, und ich bin stolz darauf.«
Anna stieg die Treppe zu Shauns Zimmer hinunter. Er lag in Jeans und einem Baseball-Shirt auf dem
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