Schattenturm
Bett; seine Füße ragten über den Bettrand hinaus. Seine Wangen waren von der Hitze gerötet. Mit dem ausgestreckten Arm auf dem Kissen lag er in derselben Haltung auf dem Bett, die er schon als Kind bevorzugt hatte.
Plötzlich erwachte er aus einem unruhigen Schlummer und schaute Anna an. Sie konnte an seinem Gesicht ablesen, wie schrecklich das Erwachen für ihn war, denn mit dem Erwachen stürmte die grausame Wirklichkeit wieder auf ihn ein. Shauns Miene erstarrte. Er lehnte sich ans Kopfteil des Bettes, zog die Knie an die Brust und weinte.
Die Trauer ihres Sohnes machte Anna tief betroffen. Sie setzte sich neben ihn und nahm ihn in die Arme. Sein Schluchzen brach ihr das Herz. Sie wiegte ihn schweigend in den Armen, denn Worte des Trostes fand sie nicht. Ein sechzehnjähriges Mädchen war brutal ermordet worden. Mit diesem Drama war keine Erlösung, keine spirituelle Erkenntnis verbunden, nur Schmerz und Leid.
»Ich liebe dich«, flüsterte Anna in Shauns feuchtes Haar. »Dad und ich lieben dich sehr.«
Nach einer Weile beruhigte Shaun sich ein wenig. »Ich kann es nicht begreifen«, sagte er. »Warum gerade Katie? Sie hatte keinem was getan. Sie war …« Er brach wieder in Tränen aus. Anna hielt ihn in den Armen und streichelte ihm übers Haar, bis er schließlich wieder eingeschlafen war. Dann schob sie ihm behutsam ein Kissen unter den Kopf und ließ ihn allein.
Es war fast Mitternacht, doch im Danaher’s herrschte noch immer Hochbetrieb.
»’n Abend, Ray«, sagte ein neuer Gast, der gerade in die Kneipe kam, »da draußen steht ein Bursche, der will, dass du deinen Wagen umparkst.«
»Okay.« Ray zog seine Autoschlüssel aus der Tasche und verließ die Kneipe. Neben seinem Wagen stand ein blonder Mann. Sein Haar war auf dem Scheitel kurz geschnitten, im Nacken jedoch lang.
»Ist das Ihr Wagen?«, fragte der Mann.
»Ja«, sagte Ray. »Was dagegen?«
»Dann fahren Sie ihn mal schleunigst weg.«
»Wieso die Eile, Kumpel?«, fragte Ray verärgert, stieg ein und betrachtete die eigenwillige Frisur des Mannes. »Geht’s um deinen Friseurtermin?«
»Fahren Sie Ihren Scheißwagen weg!«, schnaubte der Mann. Die Hände in den Taschen vergraben, trat er von einem Fuß auf den anderen.
Ray setzte zurück, sodass der Fremde mit seinem Van losfahren konnte, und wollte wieder in die Kneipe, als er plötzlich eine Hand auf der Schulter spürte, die ihn herumriss. Die beiden Männer funkelten einander wütend an. Ray hob die Faust, wurde von dem Blonden aber nach hinten gestoßen. Er wollte sich an der Jacke des Mannes festkrallen, um das Gleichgewicht zu wahren, doch es war zu spät. Ray stürzte zu Boden, während der Mann in seinen Van sprang und davonraste.
Wütend richtete Ray sich auf. Plötzlich fiel ihm etwas ins Auge: ein goldener Schimmer auf dem schwarzen Asphalt.
Joe stand mit einem frisch gezapften Bier an der Theke, als Ray zurück in die Kneipe kam.
»Was war los?«, fragte Joe. »Du siehst ja ganz zerrupft aus.«
»Irgendein Komiker auf dem Parkplatz ist durchgedreht«, sagte Ray. »Kariertes Hemd, hautenge Jeans, Stiefel. Der Kerl hat mir eins verpasst, weil ich über seine Frisur gelästert habe. Sieh mal, was der Typ verloren hat.« Ray legte etwas auf die Theke.
Joe starrte fassungslos darauf. Dann ergriff er den kleinen Gegenstand und eilte zur Tür, obwohl er wusste, dass es zu spät war; der Fremde war bereits verschwunden. Vor der Eingangstür blieb Joe stehen und hielt den Gegenstand ins Licht der Lampe auf der Veranda. Er sah die vertrauten Umrisse, die goldbraune Farbe, die Schwingen und das Gefieder des Wüstenbussards im Flug. Joe eilte in sein Arbeitszimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch, ging ins Internet und gab in die Google-Suchmaschine verschiedene Begriffe ein: Bussard, Anstecknadel, Gold. Die Treffer waren völlig nichtssagend. Joe versuchte es noch einmal, jetzt mit den Begriffen: braun, gold, Harris Hawk, Anstecknadel. Wieder waren die Ergebnisse unbrauchbar. Joe versuchte sein Glück mit allgemeineren Angaben wie Texas, Raubvögel, Abzeichen, Anstecknadel und weiteren Begriffen und stieß auf die Website eines Mannes namens Larry: larryliebtwildparks.com. Zwei Farbfotos waren zu sehen. Das erste zeigte vier Männer Anfang fünfzig in Tarnanzügen, an deren Hälsen Kameras und Ferngläser baumelten. Joe las die Bildunterzeile.
Ich, Dick, Bobby und Jimmy, Nueces County, Texas, wo wir den ersten Steinadler der Saison gesehen haben (Ja, Sie haben ganz
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