Schattenturm
Schulter einen Blick auf Richie. »Wir möchten den zweiten Akt nicht versäumen.«
»Kein Problem, Mrs Miller«, sagte Richie und schaute auf den Boden.
Joe fuhr auf der Malahide Road in Richtung Norden durch Dublin. Bevor er die Autobahn zum Flughafen erreichte, bog er links durch das rote, schmiedeeiserne Tor zum Ausbildungszentrum der Feuerwehr ab und folgte einer gewundenen Allee. Das Hinweisschild zur Leichenhalle führte ihn um einen großen, freien Platz herum, auf dem ein halbes Flugzeug mit einem Flügel in einer Ecke lag. Als er auf einer Steinmauer die aufgemalte Fassade eines Nachtclubs sah, fiel bei ihm der Groschen: Feuerwehr, Ausbildung.
Joe hielt vor den vier Baracken, in denen die staatliche Gerichtsmedizin vorübergehend untergebracht war. Er hoffte, Dr. Mc-Clatchie in ihrem Büro anzutreffen, doch sie stand auf dem Flur und sprach mit einem Assistenten.
»Dr. McClatchie, guten Tag. Mein Name ist Joe Lucchesi. Ich bin Detective bei der New Yorker Polizei und … nun, ich hätte gern kurz mit Ihnen gesprochen.« Er lächelte.
Die Gerichtsmedizinerin fühlte sich offenbar überrumpelt, sagte aber: »Gut, kommen Sie mit in mein Büro.«
»Es geht um den Mord an Katie Lawson«, erklärte Joe.
»Ah.« Dr. McClatchie setzte sich an ihren Schreibtisch und bot Joe einen Platz an. »New York Police Department? Warum wurden Sie in den Fall mit einbezogen?«
Joe überlegte kurz, ob er ihr die Wahrheit sagen sollte. »Das wurden wir nicht«, gab er schließlich zu. Er zog die Fotos aus der Tasche, die ihm gefaxt worden waren, und legte den Stapel auf den Schreibtisch. Obenauf lag ein besonders anschauliches Bild. »Tonya Ramer«, stand über dem Foto. Die Tote lag in einer Leichenhalle – ihre Miene gespenstisch, beinahe gelassen. Der Leichnam musste wenige Tage nach dem Mord gefunden worden sein. Im Genitalbereich war das Gewebe zerstört; dort waren spitze schwarze Splitter zu sehen – Holz, wie Joe wusste. Die einzigen anderen sichtbaren Verletzungen waren Schnitte an den Knien und unterhalb des Brustkorbs, auf beiden Seiten, drei tiefe Einschnitte von gleicher Länge.
Lara schaute auf das Foto und hob den Blick sofort wieder, während sie die anderen Fotos auf dem Tisch verteilte.
»Was soll das?«, fragte sie, eher belustigt als verärgert.
»Ich wollte Sie bitten, sich die Fotos anzusehen und mir zu sagen, ob Katie Lawson ähnliche Verletzungen zugefügt wurden.«
»Selbst wenn ich es wollte, dürfte ich Ihnen …«
Joe unterbrach sie: »Katie Lawson war die Freundin meines Sohnes.« Lara lehnte sich seufzend zurück. »Und ich weiß«, fuhr Joe fort, »dass mein Sohn als Hauptverdächtiger gilt. Ich glaube, dass der Mann, der diese Morde begangen hat«, er zeigte auf die Fotos, »auch der Mörder Katies sein könnte.«
Dr. McClatchies nachdenklicher Blick glitt über die Bilder.
»Sie wissen, dass ich Ihnen das unmöglich sagen kann. Offen gestanden wundert es mich, dass Sie überhaupt hierher gekommen sind.«
»Ich wollte es wenigstens versuchen. Glauben Sie mir, ich schätze Ihre Arbeit sehr. Vermutlich leisten Sie mehr als jeder andere, der an dem Fall sitzt.«
»Aber Sie haben mit dem Fall nichts zu tun.«
»Stimmt. Trotzdem ist es sehr, sehr wichtig für mich.« Er beugte sich über den Schreibtisch und legte die Fotos wieder zu einem Stapel zusammen. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie belästigt habe«, sagte er dann und schaute Lara in die Augen. »Ich hoffe, mein Besuch bleibt unter uns.«
»Bitte?«
»Es wäre mir unangenehm, wenn die ermittelnden Polizisten erfahren, dass ich Sie aufgesucht habe.«
Lara hob den Blick zur Decke. »Ich habe Ihnen nichts gesagt.«
Falsch, dachte Joe. Du hast mir alles gesagt, was ich wissen muss.
Joe hatte gelernt, die Mimik eines Menschen zu deuten. Ein Zucken, ein Blinzeln, ein Schlucken – solche Reaktionen halfen ihm, einen ehrlichen Menschen von einem Lügner zu unterscheiden. Laras Reaktionen auf die Fotos sprachen Bände: Die Wunden waren nicht dieselben. Was Joe allerdings nicht einordnen konnte, war Laras kaum merkliches Stirnrunzeln in letzter Sekunde und ihr beinahe zögerndes Loslassen der Bilder.
»Hier ist meine Karte, falls Sie mich sprechen wollen«, sagte Joe.
Lara starrte ihn an. Joe strich seine New Yorker Telefonnummer durch, schrieb seine aktuelle Handynummer darunter und stand auf. Doch er hatte sich zu schnell bewegt, und da er noch nichts gegessen hatte, wurde ihm schwindelig. Er griff an den Schreibtisch, um das
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