Schattenwanderer
Sicher musste ich nur mit den üblichen Untoten rechnen, denen man aber immer entkam.
Wie ich schon vermutet hatte, nahmen diese Straßen keinen geringen Teil der Stadt ein. Gegen Mittag hatte ich mir jedoch alle Gebäude und Gassen des Verbotenen Viertels eingebläut. Erschöpft sank ich auf dem Stuhl zurück, klappte den dicken Band zu und legte ihn beiseite. Mein Magen gab mir erbarmungslos zu verstehen, dass er etwas zu essen wünschte. Als Bolzen auftauchte, fragte ich ihn, ob er mir etwas bringen oder kaufen könnte. Er würdigte mich nur eines grimmigen Blicks und teilte mir mit, den Bauch schlage man sich in Schenken voll, nicht in einem Hort des Wissens. Daraufhin beschloss ich, die Sache anders anzugehen, kramte eine Silbermünze heraus und ließ sie auf dem Tisch einen kreiselnden Tanz vollführen. Die Münze war noch nicht zum Stillstand gekommen, da hatte Bolzen sie schon eingesteckt und war zwischen den Büchern und Schriftrollen verschwunden. Nach einer Weile tauchte er mit einem stattlichen Vorrat an Essen und vier Flaschen roten Weins wieder auf. Er hatte mit meinem Geld nicht gegeizt. Wir aßen gleich hier, an diesem Tisch, indem wir die Bücher kurzerhand zur Seite schoben. Den ganzen Vormittag über hatte nicht ein einziger Mensch die Bibliothek besucht, und während ich an einem zähen Hühnerschenkel nagte, ging mir auf, wie einsam der Alte sein musste. Bolzen sprach hauptsächlich dem billigen Wein zu. Nach dem Essen schickte ich den Alten weg, um ungestört zu sein. Bewaffnet mit den Resten seiner Einkäufe zog er ab.
Nun nahm ich mir das kleine Buch vor, auf dem in schwarzen Buchstaben stand: Hrad Spine. Geheimnis der Nacht, umweht vom Tod. Geschichte und Prämissen. Wissenschaftliche Arbeit des Magiers Dalistus des Schneeigen, Orden von Awendum.
Das versprach eine interessante Lektüre zu werden. Verschnörkelte Buchstaben und Stiche, Karten und Zeichnungen von geheimnisvollen Wesen. Die schreckliche Geschichte fesselte mich zunehmend, und ich versank in dem untergegangenen Zeitalter der Geheimnisse.
Hrad Spine – so nannten die Oger jenen Ort. Übersetzt in die Sprache von uns Menschen bedeutet es Beinerne Paläste. Die dunklen Elfen behaupteten, die Menschensprache sei nicht in der Lage, das maßlose Entsetzen auszudrücken, das die Oger in diese beiden Worte gelegt hatten. Niemand wusste, wie und in welcher Zeit Hrad Spine entstanden war. Wessen Gedanken und Kraft sich tief in die Knochen der Erde gebohrt hatten, um jene Kavernen und Höhlen zu schaffen, die später zu einem architektonischen Wunder der nördlichen Welt werden sollten – und noch später zu einer Welt des Dunkels und des Entsetzens. Es waren die Oger gewesen, die Hrad Spine entdeckt hatten, damals, bevor sie in die Öden Lande gezogen waren. Als es noch keine Orks gegeben hatte, von Menschen ganz zu schweigen. Die Oger untersuchten Hrad Spine lange, sehr lange. In den Höhlen waren sie auch auf den Kronk-a-Mor gestoßen, angeblich waren dies die Schriften einer unbekannten Rasse, die lange vor den Ogern in Siala gelebt hatte. Daraus entwickelten sie ihre Magie.
Die Oger, damals noch nicht ihres Verstands beraubt, nutzten Hrad Spine als Friedhof, betteten ihre Toten in den riesigen unterirdischen Höhlen zur Ruhe und verhängten über die Gräber grausame Flüche. Später, nachdem die Oger nach Norden gezogen waren, fanden Elfen und Orks in Hrad Spine ihre letzte Ruhestätte. Obwohl sie einander bekämpften, schufen sie unter der Erde gemeinsam prachtvolle Paläste, die die Zeitgenossen mit ihrer Schönheit beeindruckten. Abertausende wurden hier in den alten Gräbern bestattet.
Kunstvolle Decken, Säulen, Fresken, Säle, Statuen und Gänge – das war das Hrad Spine jener Zeit. Es war der einzige Ort, an dem die verfeindeten Verwandten Waffenstillstand geschlossen hatten. Weder Orks noch Elfen wagten sich in die unteren Schichten der Oger vor. Beide Rassen ahnten, dass von der Magie der Oger etwas Unheimliches ausging. Außerdem reichten Elfen wie Orks die oberen Schichten der Paläste vollauf. Achthundert Jahre lang arbeiteten sie an den Beinernen Palästen. Hrad Spine wuchs zu einem Land unter der Erde heran. Ein gigantisches Reich, das mit seinen Maßen die Vorstellungskraft aller erschütterte. Es war eine unterirdische Welt der Schönheit, des Geheimnisses und des Vergessens, die ihr eigenes, totes Leben lebte. Gleich arbeitsamen Ameisen bauten Orks und Elfen immer neue Säle, Grüfte und Gänge tief, tief
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