Schattenwanderer
kleine Armbrust wortlos unter meinem Umhang hervor und hielt sie Bolzen hin. Bevor ich sie ihm überließ, überzeugte ich mich jedoch, dass sie gesichert war. Der Alte nahm mir die Armbrust ab, schnalzte anerkennend mit der Zunge, wog sie in den Händen und zielte auf etwas hinter mir. Den Hebel, mit dem die Waffe gesichert war, hatte der Alte sehr rasch gefunden und betätigt. Ich bedauerte schon, die Waffe vorher nicht entladen zu haben. Bald schien er jedoch genug von dem Spiel zu haben und legte die Armbrust neben sich, goss sich ein weiteres Glas Wein ein, stieß mit der Waffe an und setzte, dankbar für diesen neuen Zuhörer, seine Geschichte vom Einsamen Riesen fort. Ich versenkte mich in die Lektüre und nahm erst am späten Abend wieder etwas wahr, als Bolzen mir laut ins Ohr brüllte: »Der Oger!«
Bolzens Schrei kam so überraschend, dass ich prompt zusammen mit dem Stuhl umkippte und heftig mit dem Hinterkopf auf dem hölzernen Boden aufschlug. Durch Schmerzwellen hindurch gewahrte ich einen schweren Pfeil, der sich in den Tisch bohrte und das Buch über Hrad Spine aufspießte. Der Pfeil zitterte noch, als Bolzen bereits nach der Armbrust griff und ohne zu zielen einen Schuss nach oben abgab. Ich hörte jemanden schmerzgepeinigt, wütend und erstaunt aufschreien. Dann drehte ich mich um, gewappnet, einen leibhaftigen Oger zu sehen – ein Anblick, der mir bisher noch nicht vergönnt gewesen war. Da stand aber kein Oger, sondern nur mein alter Bekannter Bleichling, der die linke Hand auf den rechten Oberarm presste, aus dem der Armbrustbolzen herauslugte. Ein Kurzbogen, wie ihn die Steppenbewohner Ungawas benutzen, lag auf der Galerie, auf der sich Bleichling versteckt hatte. Kurz begegneten sich unsere Blicke, dann handelten wir beide zugleich. Ohne mich um meinen Kopfschmerz zu scheren, sprang ich auf, riss dem betrunkenen Alten die Armbrust aus der Hand und stürmte, im Laufen nachladend, die Treppe hoch zur Galerie. Bolzen trägt seinen Namen zu Recht, dachte ich noch bei mir, wenn er, sturzbesoffen und ohne zu zielen, aus dieser Entfernung trifft. Und sei es nur den Oberarm. Wahrlich ein Meister.
Bleichling war inzwischen in einen der halbdunklen Gänge im ersten Stock geflohen. Ich stürzte ihm hinterher, versuchte den Schmerz in meinem Hinterkopf zu vergessen und spannte mit zitternden Händen die Sehne der Armbrust. Zum Glück hatten die Zwerge zusätzliche Mechanismen eingeplant, sodass ich nur einen kurzen Hebel ziehen musste, damit die straffe Sehne richtig lag. Ebenfalls im Laufen setzte ich einen neuen Stahlbolzen ein, den ich dem weit vor mir schimmernden Bleichling in den Rücken feuerte. Nach dem Sturz tanzten mir allerdings immer noch regenbogenfarbige Kreise vor Augen, und der Bolzen traf nicht meinen Angreifer, sondern schlug in ein Buch ein. Als Bleichling das Flirren der Sehne hörte, wirbelte er herum und holte mit dem unverletzten Arm aus. Ich ließ mich zu Boden fallen, und das Wurfmesser, das über meinen Kopf hinwegpfiff, prallte gegen eines der Regale und fiel zu Boden. Als ich wieder aufsprang, war Bleichling fort. Das Fenster im ersten Stock stand sperrangelweit offen. Ich lud die Armbrust erneut nach, trat ans Fenster und spähte aufmerksam hinaus, bereit, jederzeit zurückzuschnellen, sollte Bleichling nicht geflohen sein, sondern sich nur versteckt haben. Die nächtliche Straße lag jedoch verlassen da, nur ein paar Laternen brannten, und ich schloss rasch das Fenster, bevor noch jemand aus der Dunkelheit auftauchte. Aus tiefstem Herzen wünschte ich Bleichling, heute Nacht auf einen besonders hungrigen Dämon zu treffen.
»Is’ der Oger weg?«, fragte Bolzen.
Er zog den Pfeil aus dem Buch und verwünschte den ganzen Stamm der Oger, der einer alten Handschrift Schaden zugefügt hatte.
»Der kommt nicht weit. Du hast es ihm ordentlich gegeben«, beruhigte ich ihn.
Markun wollte offenbar nicht länger auf Garretts Beitritt zur Gilde warten, sondern zog es vor, ihn zu Sagoth zu schicken, um ein Exempel für andere Widerspenstige zu statuieren. Dieses Problem durfte ich nicht auf die leichte Schulter nehmen.
»Richtig, das hab ich!« Der Alte wiegte gewichtig den Kopf, hickste und schien von einer für mich nicht wahrnehmbaren Windböe durchgeschüttelt zu werden.
»Vielen Dank, Bolzen, du hast mir sehr geholfen. Es ist schon spät, ich werd mich aufmachen.«
Ich hatte erfahren, was ich wissen musste. Um eine Exkursion ins Verbotene Viertel kam ich offenbar nicht
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