Schattenwanderer
unter der Erde. Sie übertrafen mit ihrem Fleiß sogar Gnome und Zwerge, die zuweilen nach Hrad Spine kamen und sich von der Schönheit und Erhabenheit dieses Ortes beeindruckt zeigten. Am Ende verlangten der Blutdurst der Orks und der Hass der Elfen jedoch Tribut, und Blut floss an der heiligen Stätte der beiden Rassen. Jede Rasse stellte auf ihrem Gebiet Fallen für den Feind auf, gewöhnliche und magische. Die unterirdischen Säle barsten unter dem dunklen Schamanismus und ertranken in Blut. Irgendwann fühlten sich weder Orks noch Elfen länger in Hrad Spine sicher. Die Beinernen Paläste verödeten, bald wusste niemand mehr, wo sich die Fallen und Labyrinthe befanden. Hrad Spine glich nun einem Blätterteig, der sich unter der Erde etliche Leagues in die Tiefe und die Breite dehnte, mit Schichten für Oger, für Orks und für Elfen. Alles, was in Hrad Spine existierte, hatte sich in ein festes und unentwirrbares Knäuel verwandelt. Nachdem Orks und Elfen diese Säle verlassen hatten, kamen die Menschen dorthin, die inzwischen in der Welt Sialas aufgetaucht waren. Auch sie wagten sich nicht in die untersten Schichten vor, dafür immerhin reichte ihr Verstand. Die Menschen nutzten die drei oberen Terrassen zur Bestattung ihrer Soldaten. Schon bald eilte Hrad Spine, dem größten Friedhof der Nordlande, ein legendärer Ruf voraus. Nur Soldaten, die ihre Kühnheit auf dem Schlachtfeld bewiesen hatten, Aristokraten und angesehenen Staatsmännern wurde die Ehre zuteil, in diesen Palästen ihre letzte Ruhe zu finden. Auch Grok wurde in Hrad Spine bestattet. Später unternahm der Orden dann den Versuch mit dem Horn, womit die verworrene Geschichte des Geschlossenen Viertels ihren Anfang nahm.
Vor etwa dreihundert Jahren geschah aber Folgendes: Niemand konnte sich das Ganze erklären, keiner wusste, wie es dazu kam. In Hrad Spine erwachte das Böse. Das Böse in den Knochen der Oger, das durch dunklen Schamanismus geschützt war und all die Jahrhunderte in den tiefsten Schichten des unterirdischen Landes geschlummert hatte. Das Böse erwachte, weckte die Toten – und noch jemanden. Es erhob sich bis zu den obersten Schichten, gelangte aber nicht aus Hrad Spine heraus, sondern blieb in den alten Palästen auf ewig gebannt. Daraufhin suchte niemand mehr diesen Ort auf. Abgesehen von jenen Magiern, die das Horn zu Groks Grab brachten.
Schon bald verschlossen die Wälder Sagrabas die Zugänge in diese unterirdische Welt und begruben sie für immer unter ihren grünen Kronen. Im Laufe der Zeit wurden die schrecklichen Geschichten über Hrad Spine immer grauenvoller und dunkler. Nur einmal, vor etwa vierzig Jahren, wagten sich dunkle Elfen dorthin, um das Oberhaupt aus dem Haus der Schwarzen Rose zur ewigen Ruhe zu legen, sie konnten den Körper des Elfen, der im Kampf gegen die Orks gefallen war, jedoch nur bis hinunter zur vierten Schicht schaffen. Dort ließen sie ihn und kehrten, nachdem sie sich der Wesen der Nacht erwehrt hatten, wieder an die Oberfläche zurück. Genauer gesagt, ein verschwindend kleiner Teil von ihnen kehrte zurück.
Und jetzt sollte ich mich an diesen düsteren Ort begeben, ohne jede Hoffnung, ohne genaue Karten für die einzelnen Terrassen, ohne zu wissen, wo Fallen lauern mochten oder sich das Grab Groks befand, das die Magier des Ordens in ihrem Eifer unbedingt in der tieferen achten Schicht, also bereits einer Elfenschicht, hatten anlegen müssen. Mir blieb nur zu hoffen, dass sich Arziwus nicht irrte und ich im alten Turm des Ordens Karten und Pläne finden würde, in denen die Lage des Horns vermerkt war.
Als ich mich etwa in der Mitte der Lektüre befand, setzte sich Bolzen, der unterdessen bis an die Oberkante mit Wein abgefüllt war, zu mir an den Tisch. Er fing an, mir vom Leben und dem Dienst im Einsamen Riesen zu erzählen. Über die Schlachten gegen Orks und Swenen und von seiner treuen Armbrust. Ich achtete nicht sonderlich auf sein betrunkenes Geplapper, nickte nur hin und wieder, während ich mich weiter der Geschichte Hrad Spines widmete. Erst als der Abend schon heranrückte und der Alte von seiner Erzählung offenbar selbst genug hatte, bat er mich, ihm meine Armbrust zu zeigen. Ich riss mich von dem Buch los und sah ihn erstaunt an.
»Was gaffst du so? Hast du Angst, ich bin zu besoffen und verletze mich? Ich hab schon mit ‘ner Armbrust geschossen, da warst du Grünschnabel nich’ mal geboren! Los, gib schon her, es passiert nichts!«
Nach kurzem Zögern holte ich die
Weitere Kostenlose Bücher