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Schattenwanderer

Schattenwanderer

Titel: Schattenwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexey Pehov
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nächsten Zeit gewiss niemand brauchen. Mir dagegen könnte sie in Hrad Spine gute Dienste leisten.
    Der Nachteil aller Rollen ist, dass ihre Zauber nur einmal eingesetzt werden können. Indem man den Spruch vorliest, wirkt man den Zauber. Danach kann man das wertlos gewordene Pergament wegwerfen. Die Magie zerstört die Worte, löscht sie sowohl vom Pergament als auch aus dem Gedächtnis desjenigen, der sie vorgelesen hat. Der Vorteil ist, dass man kein Magier zu sein braucht. Es reicht völlig, wenn man lesen kann.
    Irgendwo hinter den Regalen erklang das Husten von Bolzen, dann tauchte er selbst wieder auf, zwei Bücher in Händen. Eines war ein beeindruckendes Ding, in braunes Rindsleder gebunden und mit einer verblassten Prägearbeit in Gold versehen, das zweite ein kleiner und derart verwitterter Band, dass ich den Eindruck hatte, er würde sich auf der Stelle in eine Staubwolke verwandeln.
    »Mich hätt da beinah ‘n Oger erwischt«, brummte der Alte, als er mir die beiden Bücher aushändigte. »Das Viech hat sich unterm Regal versteckt. Was stehst du rum? Setz dich in Bewegung! Oder willst du hier Wurzeln schlagen?«
    »Das ist alles?«, fragte ich mit ungläubigem Blick auf die beiden Bücher. Ich hatte mit mehr gerechnet.
    »Reicht völlig. Im großen sind Pläne Awendums, die vor vierhundert Jahren gezeichnet wurden, im kleinen welche von Hrad Spine. Es ist noch gar nich’ so alt, aber in ‘nem fürchterlichen Zustand. Karten von Hrad Spine haben wir nich’. Die haben die Magier vor vielen Jahrhunderten in ihren Turm geschleppt. Die übrigen Bücher sind auf Orkisch. Hast du da etwa ‘nen Schimmer von? Siehst du! Also jammer nich’! Und jetzt Abmarsch! Ich hab dich hergebracht, damit du die Bücher schleppst, nich’ damit du alles anglotzt wie ‘n Doralisser ‘ne junge Stute.«
    Der Alte löschte die Lampe der Zwerge, nahm die Fackel aus dem Halter und stieg die Treppe ächzend wieder hinauf. Den ganzen Rückweg über schwiegen wir. Immer noch wortlos schloss der Alte die Eisentür ab, führte mich zu einem Tisch, allerdings nicht im Lesesaal, sondern in einem kleinen, hinter den Regalen entstandenen Verschlag, und zog sich, etwas vor sich hinmurmelnd, in den Gang zurück, durch den wir vorhin gekommen waren. Hier war ich der einzige Besucher. Die Bewohner Awendums suchten das Heiligtum des Wissens ohnehin selten auf – und diesen Verschlag dürfte kaum einer kennen.
    Ich fing mit dem einfachsten Punkt an. Das kleine Buch legte ich zur Seite, um mir den schweren Band mit den Karten der Stadt vorzunehmen. Die Pläne waren gebunden und zu einem Buch zusammengefasst worden. Die Seiten aus feinem Pergament knisterten leise, wenn ich sie umblätterte, um den Ort in Awendum zu suchen, der mich interessierte. Die Darstellungen verblüfften mich mit ihrer Klarheit und Detailfreude – fraglos eine Arbeit der eifrigen Zwerge. Nur ihre großen, aber geschickten Hände brachten es fertig, Linien mit solcher Präzision und Liebe zu zeichnen. Zusammen mit den Seiten zogen an meinen Augen die Straßen Awendums und seine Geschichte vorbei. Das, was ich suchte, fand ich ab Seite vierzig. Das Verbotene Viertel. Natürlich hatten die Magier des Ordens damals den Versuch mit dem Horn des Regenbogens, der dieses Gewirr von Straßen in einen verfluchten Ort verwandeln sollte, noch nicht unternommen. Drei Straßen verliefen parallel und führten vom Hafenviertel zum Viertel der Handwerker: die Straße der Schlafenden Katze, die Straße der Menschen und die Friedhofsstraße. Die letzte endete am alten Friedhof, wo seinerzeit die Toten bestattet wurden.
    Erst heute werden die Toten außerhalb der Stadt begraben, am Ufer des Kalten Meers, aber früher, als Awendum noch klein war, lag der Friedhof innerhalb der Stadtmauern. Im rechten Winkel zur Straße der Schlafenden Katze verlief die Straße der Magier, die sich gleichmäßig zu einem Platz erweiterte, auf dem der alte Turm des Ordens stand. Von ihm führte die Straße der Dachdecker weg. Ich begann, mir all diese Straßen, Häuser und Gassen einzuprägen. Man soll mich ruhig einen Idioten schimpfen, aber ich erstelle mir niemals einen Plan auf Pergament. Wozu hab ich schließlich meinen Kopf? Während ich alles memorierte, begriff ich, dass es ziemlich einfach sein würde, ins Geschlossene Viertel vorzudringen. Die Frage war, was mich dort erwartete. Obwohl da im Grunde keine Monster lauern sollten, die hätten die magische Mauer des Ordens längst durchbrochen.

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