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Schattenwanderer

Schattenwanderer

Titel: Schattenwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexey Pehov
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versuchten einen Spalt zu ertasten und diese niedrige, für sie aber dennoch unüberwindliche Barriere zu nehmen. Einer der gelben Fühler hatte sich beinahe zur Mauerkante emporgereckt – doch kaum traf er auf den Stein, da sprühten Funken auf, und der Fühler zuckte erschrocken, um sich sodann windend wie ein verletzter Wurm zurückzuziehen. Das war Magie.
    Der Zaubernebel, den loszuwerden der Orden längst aufgegeben hatte, war auf eine magisch geschaffene Mauer getroffen. Magie war also auf Magie gestoßen. Die Magie der Mauer hatte sich dabei als stärker erwiesen. Sie hatte den Nebel nicht durchgelassen, sosehr dieser auch trachtete, in den einzigen noch nicht von ihm eroberten Teil der Stadt vorzudringen. So ging es jeden Juni. In den ersten Tagen des Monats fegte der Nebel, frisch aufgetaucht, gegen die Mauer, peitschte auf sie ein, ließ kalte blaue Funken über sie schießen. Irgendwann legte sich dann der Sturm, die Fühler versuchten nur noch selten, eine Bresche in die weiße Festung zu schlagen. Wenn der erste Monat des Sommers endete, verzog sich der Nebel bis zum nächsten Jahr, um seinen aussichtslosen Angriff dann erneut zu reiten.
    Für einen kurzen Augenblick erlosch der Nebel nun. Der käsig gelbe Mond war zu einer einsamen Wolkenkette gewandert und versteckte sich vorübergehend dahinter. Als die Wolken weiterzogen, warf der Mond abermals sein fahles Licht auf die Gegend um Starks Marstall. Von dieser einen Wolkenkette abgesehen, war der Himmel klar, und die bunten Splitter der Sterne, die an der nächtlichen Kuppel der Welt funkelten und glitzerten, leuchteten aus unerreichbarer Höhe. Die Krone des Nordens hing wie ein diamantener Anhänger am Firmament. Ihr Stein, der hellste Stern in unseren Breiten, wies nach Norden, in die Öden Lande, wo der Unaussprechliche zum Krieg rüstete. Gerüchten zufolge konnte man jenseits des Einsamen Riesen die Krone des Nordens nicht mehr direkt anschauen, denn in dieser Gegend waren die Sterne einfach zu grell, ganz anders als bei uns in der Stadt, obwohl auch hier der Stein mit seiner Größe und der Schönheit seines leuchtend blauen Strahlens Bewunderung weckte.
    Die Nacht war warm, um nicht zu sagen heiß. Trotzdem schüttelte mich ein leichtes Zittern, und trotzdem klapperten meine Zähne. Nicht die Kälte ließ mich jedoch zittern, sondern jene Anspannung, die sich stets vor einer wichtigen und gefährlichen Aufgabe bei mir einstellt. Das brauchte mich nicht zu beunruhigen, denn sobald ich ans Werk ging, flog das Zittern wie ein feiner Staub davon, und an seine Stelle traten Konzentration und Umsicht.
    Ich hielt mich neben der Mauer von Starks Marstall im Dunkel und wartete ungeduldig auf Mitternacht. Wie hieß es doch so schön? Die Zeit zwischen Mitternacht und der ersten Stunde ist die ungefährlichste. Deshalb hatte ich beschlossen, auf diese gesegnete Stunde zu warten, vor allem da es nur noch wenige Minuten waren.
    Wegen des warmen Wetters hatte ich den Umhang gegen eine schwarze Jacke mit Kapuze getauscht. Außerdem hatte mir meine Leber gezwitschert, dass es heute Nacht nicht gerade gemächlich zugehen werde. Da würde der Umhang nur meine Bewegungsfreiheit einschränken. Abgesehen davon springt man mit so einem Ding nicht von Dach zu Dach.
    Die neue Armbrust hing über meiner Schulter, genau wie das Seil, das zu einem Knäuel zusammengerollt war, kaum größer als meine Faust. Das Seil, die Armbrust und etliche Bolzen hatte ich gleich von Meister Honhel mitgenommen, den Rest sollte er morgen früh in den Palast des Königs liefern. Der Zwerg hatte hoch und heilig versprochen, meine Bitte zu erfüllen. Dass er mich nicht übers Ohr hauen würde, stand für mich außer Frage. Honhel legte zu viel Wert auf seinen Ruf als ehrlicher Händler, als dass er sich zu einer Dummheit hinreißen ließe.
    Nun verflog das Zittern, legte sich wie der kalte Wind aus den Öden Landen. Ich rückte den breiten Gürtel mit den kleinen Täschlein, in denen die Armbrustbolzen bequemen Platz fanden, noch einmal zurecht. Davon abgesehen trug ich eine Tasche mit Fläschchen von Honhel bei mir und am rechten Schenkel mein Messer. Beides bedeutete zwar ein zusätzliches Gewicht, aber über die Jahre hatte ich gelernt, nicht mehr darauf zu achten. Vor mir auf dem Boden lag ein Stück Rindfleisch, das ich gerade noch erstanden hatte, bevor der Fleischer seinen Laden schloss. Ich hatte das Fleisch in den Drokr gepackt, den ich dem gierigen Zwerg auch noch abgekauft hatte.

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