Schattenwandler 01. Jacob
„Mein Vater hat jahrelang immer wieder mit viel Vergnügen erzählt, wie er seinen eigenen Sohn aus dem Zoo entführen musste. Und ich war so wütend, dass ich die ganze Zeit wie am Spieß gequiekt habe, während mein Vater versuchte, mich hinauszuschmuggeln. Mein Vater war ein Körperdämon, deswegen hatte er nicht die Möglichkeit, mir eine weniger auffällige Gestalt zu verpassen. Er hat es mich nie vergessen lassen. Kannst du dir das vorstellen? Dass einem der peinlichste Moment im Leben jahrhundertelang immer wieder vorgehalten wird.“
Bella hatte sich auf den Rücken gerollt und lachte jetzt laut, rang nach Luft und hielt sich die Seiten.
„Hör auf“, flehte sie und stieß ihn mit dem Fuß in die Seite. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich nicht besser fühlen will!“
„Legna hat mich allerdings noch getoppt. Weißt du, wenn Geistdämonen sich teleportieren, müssen sie unbedingt daran denken, dass sie ihre Kleider mitnehmen.“
„Oh nein …“
„Oh ja. Es war am Jahrestag von Noahs Krönung. Alle zehn Jahre gibt es eine gigantische Feier, und jeder geht hin, sogar die großen Einsiedler unter uns. Legna war sechzehn, und sie war spät dran, wie Teenager eben so sind. Dann erschien sie mit einem Knall mitten im Raum. Wohlgemerkt sind die Begleiterscheinungen bei jemandem, der so jung ist, zehnmal heftiger als das, was du heute bei ihr erlebst. Also hat sie sofort die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Und die Kleine wurde an Stellen rot, von denen ich nie gedacht hätte, dass eine Frau da rot werden kann. Es war ein sehr aufschlussreicher Moment.“
„Das kann ich mir denken!“, kicherte Isabella und errötete mitfühlend. „Die Ärmste!“
„Ja. Noah hat sehr schnell reagiert und hat sie sofort in Rauch gehüllt, um sie vor den verblüfften Blicken zu schützen. Trotzdem ziehen wir sie nicht auf damit. Noah hat sogar ein Gesetz erlassen, nach dem wir das nicht dürfen. Nur so konnte er sie dazu bewegen, sich wieder in der Öffentlichkeit zu zeigen. Indem ich dir das erzähle, setze ich meinen Seelenfrieden aufs Spiel. Ein leises Lachen in ihrer Gegenwart, kleine Blume, und ich bin dem Untergang geweiht. Also bitte …“
„Das würde ich natürlich nicht tun“, kicherte sie, setzte sich wieder auf und legte ihre Wange von hinten an seine Schulter. „Jacob“, seufzte sie leise und rieb ihre Nase an ihm. „Womit habe ich dich nur verdient?“
„Du hast sicher etwas ganz, ganz Böses getan“, frotzelte er, wandte sich zu ihr um und zog sie an sich.
Sie folgte ihm willig, hockte sich auf seine Schenkel, während sie mit ihren veilchenfarbenen Augen sein gut aussehendes Gesicht prüfend betrachtete. Er sah müde aus und ein bisschen zerzaust, was zweifellos daran lag, dass er sich immer wieder mit den Händen durchs Haar gefahren war. Gedankenverloren nahm sie eine lange dunkle Strähne zwischen ihre Finger und befühlte sie liebevoll.
„Sicher“, stimmte sie ihm leise zu. „Ich finde es trotzdem komisch, wie du es schaffst, dass ich wegen so einer schlimmen Sache kein richtig schlechtes Gewissen habe. Bei dir selber kriegst du das überhaupt nicht hin.“
„Na ja“, entgegnete er sanft und wickelte sich ebenfalls eine ihrer rabenschwarzen Locken um den Finger. „Deswegen kann ich mich wahrscheinlich glücklich schätzen, dass ich dich habe. Du bist sehr erfolgreich, wenn es darum geht, mich von diesen Dingen abzulenken.“
„Das habe ich dir im Handumdrehen beigebracht“, versicherte sie ihm.
„Ja, kleine Blume. Und dich bilden wir genauso schnell aus. Es gehört eine Menge harter Arbeit dazu, viele Versuche und sicherlich noch ein paar Unfälle, aber ich habe dich bisher als sehr lernbegierige Schülerin erlebt. Und außerdem hast du eine schnelle Auffassungsgabe. Du hast weniger als zehn Jahre bis zur Pflegschaft, und deine Kräfte sind jetzt schon mächtiger als die der meisten jungen Dämonen.“
Bella seufzte und warf erneut einen Blick gen Himmel.
„Okay, ich kann dir schon wieder nicht folgen. Pflegschaft? Und was genau ist der Unterschied zwischen einem Halbstarken, einem Erwachsenen und einem Ältesten?“
„Die Pflegschaft ist eine sehr wichtige Tradition in unserer Kultur. Wenn die Kraft eines Kindes an den Punkt kommt, wo es … Unfälle verursacht …“, er hob eine Braue, „… normalerweise zwischen der Pubertät und dem zwanzigsten Lebensjahr, dann begibt sich das Kind in die Obhut seiner Siddah . Äh …“, er suchte einen Moment nach
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