Schattenwandler 02. Gideon
verlangen, falls du gezwungen bist, sie auszulöschen. Du hast den Krieg zwischen unseren Völkern beendet, und ich werde nicht vergessen, dass dieser Friede dir genauso viel bedeutet wie mir. Wenn ich einem feindlich gesinnten Lykanthropen gegenüberstünde, würde ich vielleicht zögern, mich selbst zu verteidigen, aus Furcht, unsere gegenseitige Anerkennung aufs Spiel zu setzen.“
„Ich verstehe“, erwiderte Siena sanft und verhehlte nicht, welch großen Respekt sie vor seinem Weitblick hatte. „Trotzdem glaube ich nicht, dass es bei dieser Mission zum Kampf kommen wird. Es handelt sich bei diesen Frauen um eine sehr große Gruppe. In einer Schlacht wären wir absolut unterlegen.“
„Wir werden in der Nähe sein“, erklärte Noah. „Gideon, Elijah und ich werden euch nicht aus den Augen lassen. Und falls wir gebraucht werden, sind wir sofort zur Stelle.“
„Und wir werden uns Mühe geben, keine Probleme zu machen“, versprach Siena. „Die Zeit für eine Schlacht wird kommen. Leider scheint dieses Thema immer wieder aufzukommen.“ Siena schwieg einen Moment, dann fuhr sie fort: „Darf ich offen sprechen, Noah?“
Bei der Frage wandte sich Noah zu der Lykanthropin um, die nachdenklich mit den Fingern über die Buchrücken seiner Bibliothek strich.
„Aber natürlich“, erwiderte er.
Siena warf ihm ein kleines Lächeln zu und ging dann weiter durch den Raum, während sie sprach. Die trägen Bewegungen ihres Schwanzes waren geradezu hypnotisch. Selbst in ihrer Hybridenform war sie ein unglaublich anziehendes Wesen.
„Man braucht keine Telepathin oder keine Empathin zu sein, um zu wissen, dass dich die Beziehung zwischen deiner Schwester und Gideon sehr beschäftigt.“
Siena blieb stehen, um einen Globus aus Glas in die Hände zu nehmen, in den die Weltkarte eingeritzt worden war. Es war ein sehr altes und ungeheuer wertvolles Stück. Die Ländergrenzen waren falsch eingezeichnet, und manche Teile der Kontinente fehlten ganz.
„Ja. Das ist eine komplizierte Geschichte.“
„Ich verstehe. Ich dachte, Gideon sei bei euch sehr hoch angesehen.“
„Das ist er. Natürlich ist er das.“
„Ja, er ist ziemlich alt und ziemlich mächtig.“
Siena stellte den Globus wieder hin und drehte ihn so weit, bis das russische Reich nach vorn zeigte. Seltsamerweise belustigte das den König. Die Geschichte der Lykanthropen war in diesem Land tief verwurzelt, und der Akzent in der weichen Stimme der Königin war gut herauszuhören. Es war so, als hätte sie unterbewusst einen Beweis für ihre Anwesenheit hinterlassen wollen. Er nahm an, da sie zur Hälfte als Tier lebte, konnte sie nicht anders, als ihr Territorium zu markieren. Sein eigenes Volk hatte ähnliche Bedürfnisse.
Doch im Moment interessierte sich Noah mehr für ihre Fragen. Er hatte Sienas Intelligenz und ihren Scharfsinn nie in Zweifel gezogen, ganz zu schweigen von der Stärke, die sie gezeigt hatte, als sie nur drei Tage nach ihrer Thronbesteigung verfügt hatte, dass der Krieg mit den Dämonen auf der Stelle zu beenden sei.
Außerdem hatte sie Elijah während des Treffens nicht aus den Augen gelassen. Obwohl sie mit keinem Satz darauf angespielt hatte, wurde Noah das Gefühl nicht los, dass es Elijah gewesen war, der die Truppe angeführt hatte, die vor dreizehn Jahren ihren Vater besiegt hatte. Es war die letzte Schlacht in dem Krieg gewesen, und durch den Tod ihres Vaters war Siena ihm auf dem Thron nachgefolgt. Noah fragte sich, was für ein Gefühl es für eine Frau wie Siena sein musste, dem Mörder ihres Vaters gegenüberzustehen.
„Ich wollte schon immer wissen“, fuhr die Königin nach kurzem Schweigen fort, „wie es einem Dämon mit Gideons Fähigkeiten passieren konnte, dass er von meinem Vater gefangen gesetzt wurde. Jetzt, wo ich dein Volk kennengelernt habe, begreife ich, dass du ihn geschickt hast, damit er sich opfert.“
„Ich habe ihn zwar geschickt, aber es war seine eigene Idee“, sagte Noah leise.
Siena sah dem König in die Augen. „Gideon war der einzige Dämon, der die Weisheit besaß, so etwas zu tun“, fuhr Noah fort. „Als Körperdämon hat er keine natürlichen Kräfte, um fliehen zu können, zum Beispiel durch Teleportation. Deswegen hat er darauf gesetzt, dass dein Vater sich damit zufrieden geben würde, ihn gefangen zu halten. Und daher fürchtete dein alter Herr auch nicht, dass Gideon sich mit irgendwelchen Informationen, die uns von Nutzen hätten sein können, davonmachen
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