Schattenwandler 02. Gideon
damit!“
Legna ließ ihren Kopf nach vorn fallen, dann öffnete sie die Augen und sah ihn unter ihren langen Wimpern hervor mit dem raubtierhaften Blick einer Katze an.
Einer rolligen Katze.
4
Gideon stand da wie angewurzelt. Legnas Blick, der Blick einer Jägerin, hielt ihn gefangen, mehr als ihre Hände es in diesem Augenblick taten. Und plötzlich schienen sich die neun Jahre, die seit jenem verhängnisvollen Samhain vergangen waren, einfach aufzulösen. Gideon erinnerte sich noch an alles, was er gefühlt hatte, als sie damals während dieses besonderen Vollmonds zufällig über ihn gestolpert war. Genau die Erinnerungen und Gefühle, die zu ergründen er sich seither standhaft geweigert hatte. Einsamkeit, Schmerz und ein nicht näher zu benennender Hunger. Gnadenlos war das alles immer wieder auf ihn eingestürmt, hatte ihn wütend gemacht. Er fühlte sich schwach und betrogen. Ein Jahrtausend hatte er damit verbracht zu lernen, sich und seine Umgebung zu beherrschen. Seit Angedenken war er der mächtigste Dämon seiner Art, den es je gegeben hatte. Wie konnte dieses unbedeutende kleine Wesen nur eine solche Wirkung auf ihn ausüben, als sei er eine kosmische Kaulquappe, die hirnlos in irgendeinem Urschlamm herumschwamm?
Und da hatte Legna plötzlich vor ihm gestanden, genau wie jetzt, und alles war anders geworden. Es war nur noch um Leidenschaft gegangen und um das Verlangen nach Jugend und Schönheit, die zwar tabu waren für ihn, die er aber stets bewundert hatte. Sie hatte ihn außerdem mit diesem durchdringenden katzenhaften Blick angesehen. Es war ein unglaublich verführerischer Blick gewesen, so kraftvoll und so entschlossen. Ihre Willenskraft war beeindruckend, er hatte nicht gewusst, wie beeindruckend, und jetzt richtete sie sie auf ihn.
Legnas Augen loderten entschlossen in einem funkelnden Grün, und sie sah nur noch den Mann in ihm. Wie eine züngelnde Flamme leckte ihr Blick über seine Haut. Erregung, die noch zehnmal stärker war als die, die der Heilige Mond in ihm auslöste, durchströmte ihn bis in die letzte Faser seines Körpers. Es war Jahrhunderte her, dass er zum letzten Mal wirkliches Interesse am anderen Geschlecht gezeigt hatte. In einem so langen Leben wie dem seinen neigte man dazu, die körperlichen Bedürfnisse etwas mehr hintanzustellen.
Zumindest hatte er das geglaubt, bevor er sich in Legnas verruchtem Blick verlor. Zunächst hatte er seine Gefühle auf den Vollmond geschoben, doch dann fiel ihm auf, dass er sich viel öfter in Noahs Haus aufhielt, ohne dass er eine vernünftige Erklärung dafür gehabt hätte. Jedes Mal hatte er beobachtet, wie Legna von einem Raum in den anderen schwebte, scheinbar ohne ihn wahrzunehmen, und sich dabei nie länger als eine Minute in seinem Blickfeld aufhielt.
Das ganze Jahr über hatte er mit sich gekämpft, und als Samhain wieder gefährlich nahe rückte, hatte er sich bewusst von Legnas Einflussbereich ferngehalten. Irgendwann war ihm klar geworden, dass sie für ihn einfach eine zu große Versuchung darstellte, und er wollte nicht Gefahr laufen, dass er sie während einer Phase leidenschaftlichen Wahnsinns kurzerhand seinem Willen unterwarf.
Gideon hatte geglaubt, dass der Abstand seine Rettung sein würde, doch stattdessen hatte es ihn zerstört und ihn für jedes weibliche Wesen, das auch nur im Geringsten seine Aufmerksamkeit erregte, anfällig gemacht. Und gleich bei dem ersten Weib, auf das er in diesem Zustand getroffen war, hatte es sich ausgerechnet um einen Menschen gehandelt. Um eine ganz normale, zerbrechliche Menschenfrau, die eine Paarung mit einem Dämon niemals überlebt hätte.
Die Demütigung, die er erdulden musste, weil er versucht hatte, das heiligste Gesetz zu brechen, war unbeschreiblich gewesen. Er hatte nur noch Zuflucht in der vollkommenen Abgeschiedenheit suchen können. Und zwar acht Jahre lang.
Doch ausgerechnet zum letzten Samhain war Gideon dann wieder aufgetaucht. Als Legna ihn mit einem einzigen Gedanken an ihre Seite gerufen hatte, um den lebensgefährlich verletzten Jacob zu retten, ausgerechnet den Vollstrecker, der ihn bestraft hatte. Gideon hatte geglaubt, dass, wenn er sich normal und beherrscht unter seinesgleichen bewegen konnte, der Kampf gegen den Wahnsinn vorbei sein müsste. Er hatte geglaubt, er könnte wieder ohne Probleme am allgemeinen Leben der Dämonen teilnehmen.
Wie sehr er sich geirrt hatte!
Jetzt wusste er, dass er immer noch nicht gelernt hatte, Legnas Verlockungen zu
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