Schattenwandler 03. Elijah
annehmen konnte.
Jeder reinrassige Lykanthrop hatte drei Gestalten – die menschliche, die lykanthropische und die tierische. Die lykanthropische Gestalt war die eines Werwesens, halb Mensch, halb Tier, wie Sienas Werkatzenform.
Syreena hatte dazu noch zwei weitere.
Es wurde allgemein angenommen, dass diese Abweichung von einer lebensbedrohlichen Krankheit herrührte, an der sie als Heranwachsende gelitten hatte. Diese mysteriöse Krankheit hatte sie fast umgebracht, aber als sie wieder gesund war, stellte sie fest, dass sie, sobald sie zur Verwandlung fähig war, zwei unterschiedliche Gestalten annehmen konnte. Es war häufig gewitzelt worden, dass das die lykanthropische Version einer gespaltenen Persönlichkeit sei. Diese Beschreibung war in mancherlei Hinsicht nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt.
Erstens hätten die beiden Tierformen nicht gegensätzlicher sein können. Die eine war ein Wanderfalke, ein scharfsichtiger Raubvogel. Die zweite war ein Großer Tümmler, ein verspieltes Meereswesen mit einer unglaublichen Intelligenz. Zwar kamen die typischen Eigenschaften dieser beiden Geschöpfe in Syreenas menschlicher Gestalt recht deutlich zum Ausdruck – etwa in ihrem scharfen Urteilsvermögen oder in ihrer furchtlosen Raubtiernatur –, allerdings machte die Gegensätzlichkeit dieser zwei Werformen sie auch ein wenig unberechenbar.
In ihrer menschlichen Gestalt war Syreena schlank und zart und hatte große Ähnlichkeit mit einem zierlichen Vogel, der sich so geschmeidig und so schnell bewegte, wie es ihrer delfinischen Hälfte entsprach. Ihr Haar war in der Mitte gescheitelt. Die eine Hälfte schimmerte in vielen federweichen Brauntönen, die andere in einem schlichten Grau. Sie hatte auch zwei unterschiedlich farbige Augen. Aber wie bei einem Harlekin saß das graue Auge auf der Seite mit dem braunen Haar und das braune auf der Seite mit dem grauen Haar. Auch wenn das extreme Gegensätze waren, sah sie dadurch doch irgendwie ziemlich exotisch und einzigartig aus, ein reizvolles Spiegelbild ihrer ganzen Natur.
Syreena war nicht normal, das schon, aber sie war auch etwas Besonderes. Sie war sehr gefragt, und manche hielten sie für ganz und gar vollkommen. Schon eine solche anmutige und wunderbare Gestalt zu haben, hätte gereicht, um ihren genetischen Code begehrenswert zu machen. – Aber gleich zwei? Viele waren versessen auf die Kräfte, die in ihren Anlagen steckten. Zwar wusste man nicht im Voraus, ob sie diese abweichenden Anlagen an ihre Kinder weitergeben konnte, aber es war auf jeden Fall eine Chance, auf die viele erpicht waren.
Syreena selbst jedoch empfand diese begehrliche Aufmerksamkeit als Last, und deshalb hatte sie sich ganz hinter ihrer Arbeit als Beraterin ihrer Schwester verschanzt. Sie gab sich genauso unnahbar wie Siena, aber aus ganz anderen Gründen. Syreena sehnte sich nach einem Mann und nach einer Familie, aber sie traute den Motiven und den Absichten der Lykanthropen nicht. Es war wie bei reichen und berühmten Menschen, die sich nie sicher sein können, was andere dazu bringt, sich mit ihnen anzufreunden.
„Siena verschwindet nicht einfach spurlos“, betonte Anya der Ratgeberin gegenüber. „Wenn sie irgendwo anders hingeht, sagt sie mir immer Bescheid. Du fängst gerade erst an, dich mit deiner Schwester wieder vertraut zu machen. Ich kenne die Königin schon mein ganzes Leben, und sie macht so etwas sonst nicht.“
„Ich bin wieder am Hof, seit der Krieg vorbei ist“, erwiderte Syreena, und ihr Ton verriet, dass es ihr nicht passte, daran erinnert zu werden, dass das ihr gegenübersitzende Mischwesen viel eher als Sienas Schwester gelten konnte als sie, obwohl sie doch die mögliche Thronfolgerin war. „Ich glaube, man kann mit Fug und Recht sagen, dass ich in den letzten vierzehn Jahren eine ganze Menge erfahren habe über meine Schwester.“
„Das war nicht als Beleidigung gemeint“, entschuldigte sich Anya. „Verzeih bitte, ich mache mir bloß Sorgen.“
„Wenn du dir solche Sorgen machst, warum schickst du dann nicht jemanden von der Elitetruppe, um nach ihr suchen zu lassen?“
„Das würde ich ja gern“, meinte Anya zögernd, „aber wenn sie tatsächlich allein sein will und ich sie störe, wird sie mich vor Wut an ihren Thron anleinen.“
Syreena musste lachen. Die Prinzessin warf ihr zweifarbiges Haar zurück und grinste Anya an.
„Wir sind schon ein seltsames Paar; dauernd müssen wir uns streiten. Wir sollten lieber Vorbereitungen
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