Schattenwandler 05. Noah
monatelangen Konditionierung herrührte?
»Ich werde keine Sekunde länger in deiner Nähe verbringen als nötig«, erklärte sie abwehrend. Sie wagte es, ihm direkt in die Augen zu schauen, doch sein Lächeln machte sie noch wütender.
»Verstehe. Du hast Angst vor mir.«
»Nein, ich hab genug von dir. Nach einem halben Jahr mit deinen Spielchen und Manipulationen sogar mehr als genug!«
»Ein Spielchen, das du genauso geschickt gespielt hast, Kikilia. Mit einer Kunstfertigkeit, die mich sogar noch überflügelt hat.«
»Nenn mich nicht so!«, fauchte sie, doch der Spitzname bestätigte ihre Vermutung, dass er in ihren Träumen gewesen war.
Noah verstand ihren Groll besser, als ihr bewusst war. Warum ihn das nur noch mehr faszinierte, begriff er selbst nicht. Sie hatte normalerweise das Heft in der Hand, sie stellte die Bedingungen. Das war an allem, was sie sagte und tat, abzulesen. Ein Persönlichkeitsmerkmal, das ihm wohlvertraut war und das er ungeheuer faszinierend fand.
»Ich könnte dich an die Belohnung für die Spiele erinnern, die wir im Traum gespielt haben, Kestra«, sagte er mit dieser unglaublichen Arroganz, die ihr so auf die Nerven ging. Doch solange sie ihm so nah war, war es gar nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte. Sie streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf seine Brust, um ihn wegzuschieben. Sie musste atmen, musste nachdenken, ohne seine Wärme und seine magnetische Anziehungskraft, die ihre elektrisierten Sinne durcheinanderbrachten.
Ihre Fingerspitzen glitten hinauf zu seinem Solarplexus und schmiegten sich fest an die Stelle unterhalb seines Rippenbogens. Selbst durch den dicken Stoff seines dunkelblauen Satinhemds konnte sie die angespannten Bauchmuskeln spüren. Feste, beeindruckende Muskelstränge unter ihrer Hand und die Wärme brachten ihr intensiv zu Bewusstsein, dass er unglaublich gut gebaut war. Aber hatte sie das nicht bereits gewusst?
Ja und nein. Träumen war die eine Sache, die Wirklichkeit war etwas ganz anderes.
Kestra spürte einen Anflug von Panik, als sie bemerkte, was diese Berührung mit ihren Sinnen und mit ihrer Entschlossenheit tat.
»Du hattest schon deinen Spaß, indem du in meinem Kopf herumgespukt bist«, sagte sie leise. »Warum kannst du nicht einfach damit aufhören und mich gehen lassen? Du bist stärker als ich, ein besserer Kämpfer und mir bestimmt auch noch in vielen anderen Dinge überlegen. Kannst du dich nicht als Sieger betrachten und mich gehen lassen?«
»Denkst du wirklich, dass es darum geht? Eine Art Wettstreit?«, fragte er. »Das hatte ich nie vor.«
»Was hast du dann vor?«, verlangte sie zu wissen und blickte in die ungewöhnliche Mischung aus Jade und Grau in seinen schimmernden Augen. »Warum willst du mich dann unbedingt demütigen?«
»Wenn du dich gedemütigt fühlst, Kestra, ist das deine Sache. Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest. Warum solltest du wegen dem, was du fühlst, Scham empfinden?«
»Hör auf. Rede nicht so, als ob, als ob … als ob wir einander kennen würden. Ich kenne dich nicht. Du bist mir vollkommen fremd.«
»Aber ist das nicht der ideale Weg, wie Leute wie wir am besten zusammenkommen, beim Austausch von Intimitäten mit dem anderen Geschlecht? Je weniger man sich kennt, desto besser? Leidenschaftliche Körper, die sich hemmungslos hingeben, während Kopf und Herz aus dem Spiel bleiben?«
Zu Kestras Unbehagen kam er der Wahrheit sehr nahe. Woher wusste er das von ihr. Sie errötete, was ungewöhnlich war.
»Ist es das, was du willst? Geht es darum, den Traum wahrzumachen? Lässt du mich gehen, nachdem du dich einmal kurz in meinem Bett gewälzt hast?«
»Kurz?« Er lachte leise, und der tiefe Klang seiner Stimme strich ihr über den Hals, dort, wo sich sein gesenkter Kopf befand. »Ich frage mich langsam, ob du in den letzten sechs Monaten überhaupt aufgepasst hast.«
Die Bemerkung verfehlte ihre beabsichtigte Wirkung nicht und verursachte ihr ein heftiges Prickeln. Vielleicht war es eine Reaktion auf ihre Erinnerung, denn sie erinnerte sich ganz genau an das, was er getan hatte. In ihren Träumen hatte er nie …
Träume!
Es war nur ein Traum! Das war nicht real! Im Traum konnte ein Körper tun, was er wollte. Niemand hatte so viel Ausdauer, wie er in den langen Nächten gezeigt hatte, die sie in ihrer Vorstellung ineinander verschlungen verbracht hatten. Kein Mann war so geduldig und so geschickt. Kein Mann war so sensibel, was die Bedürfnisse einer Frau
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