Schattenwandler 05. Noah
durchbohrenden Blick abgewöhnen, aber diese Möglichkeit habe ich nun mal nicht. Und du auch nicht. Das Schicksal entscheidet, und das nimmt keine Vorschläge an.«
»Oh, es gibt immer eine Wahl. Man nennt das freier Wille, Schätzchen. Ich bin damit auf die Welt gekommen, und ich werde ihn einsetzen. Und zwar sofort.«
Kestra trat einen Schritt zur Seite, ging um ihn herum und steuerte auf die nächste Tür zu. Sie zog kräftig, doch sie konnte sie nur ein paar Zentimeter weit öffnen, bevor das Gewicht seiner Hand sie wieder zuschlug. Sie war eingekeilt zwischen ihm und der Tür, und sie drehte sich auf dem engen Raum rasch um.
»Es steht dir frei, zu gehen, wenn du willst, aber vorher würde ich noch gern ein paar Dinge klären«, sagte er mit einer leisen und rauen Stimme, hinter der sich, wie sie annahm, mühsam unterdrückte Gefühle verbargen.
»Und die wären?« Das war alles, was sie herausbrachte. Sie hatte schon einmal versucht, ihn anzugreifen. Doch selbst für ihre herausragenden Kampfkünste war er zu stark und zu gut trainiert. Es lohnte sich nicht, Energie auf ein aussichtsloses Unterfangen zu verschwenden. Sie musste ihn irgendwie austricksen.
Während sie einen Augenblick überlegte, ließ er seinen Blick über ihren hochgewachsenen, wohlgeformten Körper gleiten. Selbst mit den steifen Beinen und den zu Fäusten geballten Händen fand er sie atemberaubend. Wahrscheinlich genau deshalb. Sie war voller Zorn, ein Zustand, der ihm sowohl Bewunderung abnötigte als auch Verärgerung in ihm auslöste. Das Element, aus dem er geboren war, war der Inbegriff von Unbeständigkeit. Wenn sie zu gefällig und zu fügsam gewesen wäre, wäre es ihr nicht gelungen, ihn so zu entflammen. Das war nur einer von vielen Aspekten, die seinen ganzen Körper in erwartungsvolle Anspannung versetzten und sein Herz unkontrolliert schlagen ließen. Ihr Körper war erhitzt von einer wachsenden Wut, und dieser warme, süßliche Duft war betäubend.
»Erstens sollst du wissen, dass ich Noah heiße, auch wenn es dir nicht in den Sinn gekommen ist, zu fragen.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte ihn mit einem höhnischen Schnauben.
»Zweitens«, fuhr er sanft fort, »kannst du nicht einfach verschwinden. Du hast weder einen Ausweis noch Papiere. Du bräuchtest meine Hilfe oder die von einem meiner Leute.«
Diese Bemerkung ließ sie innehalten, und sie konnte ihren Zorn so weit im Zaum halten, dass sie den Kern seiner Worte begriff. Wozu sollte sie für eine Reise einen Ausweis brauchen oder Papiere? Hatte sie die amerikanische Grenze überschritten? Chicago war nicht weit von Kanada. Doch die kanadische Grenze zu überqueren, war keine weltbewegende Sache. Die Art und Weise, wie er das gesagt hatte, und angesichts seines Akzents dämmerte ihr langsam, dass sie irgendwie in Europa gelandet war. Um so etwas mit einer bewusstlosen Frau zu bewerkstelligen, musste er ziemlich einflussreich sein. Ein Mann, der so viel Macht besaß, dass er von »meinen Leuten« sprechen konnte.
Kestra erkannte mit einem Mal, dass es besser wäre, wenn sie die Fassung bewahren und ihm etwas mehr Aufmerksamkeit schenken würde. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein weiterer einflussreicher Feind. Außerdem bewegte sie sich in gehobenen europäischen Kreisen, legalen wie illegalen, und nie hatte sie von einem solchen Kaliber namens Noah gehört.
»Sonst noch etwas?«, fragte sie in unterwürfigem Tonfall.
»Ja«, erwiderte er leise und beugte sich näher zu ihrem Ohr hin. »Es wäre mir sehr viel lieber, wenn du nicht gehen würdest. Ich würde … ich möchte dich einladen, mein Gast zu sein.«
Allein durch die veränderte Tonlage seiner Stimme war es ihm gelungen, die Atmosphäre zwischen ihnen vollständig zu drehen. Kestra wurde sich auf einmal so vieler Details bewusst, dass es ihr beinah den Atem verschlug. Er verströmte eine unglaubliche Wärme, obwohl er sie nicht berührte. Der erdige Geruch von verbranntem Holz hüllte sie ein, als sein heißer Atem über ihr Ohr und ihren Hals strich.
Das erinnerte sie daran, wie mächtig die Chemie, die in den Träumen zwischen ihnen gewirkt hatte, tatsächlich war. Ihr Herz schien allein schon wegen seiner Nähe laut zu klopfen. Er hatte sie noch nicht einmal berührt, und trotzdem gelang es ihm, ihre Reaktion auf ihn zu beeinflussen. Doch das hier war kein Traum; er war kein namenloses, gesichtsloses Wesen. War das eine Art pawlowscher Reaktion, die von einer
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