Schattenwende
wartete.
Wartete, bis der Boden unter seinen Füßen erbebte. Er wartete, bis ein ohrenbetäubender Lärm seine Ohren selbst durch den Schutzwall hindurch zum Klingen brachte. Er wartete, bis die Hitze der explodierenden Flammen in die Kälte, die ihn umgab, einbrach und ihn eine kräftige Hand in die Wirklichkeit zurückriss.
Reagan und Damir grinsten ihn an. Er las Erleichterung und Genugtuung in ihren Augen und fühlte sich einmal mehr mit diesen Kriegern verbunden.
„Wo ist Dwight?“, flüsterte er heiser.
„Er kommt nach. Ihm gelüstet es nach jemandem, dessen Tod er sehen will.“
Sterben ist ein langsamer Prozess.
Das erkannte sie, als sich ihr gesamtes Ich darauf konzentrierte, dem stetigen Tropfen eines defekten Wasserhahns zu lauschen. Mit all ihrer Kraft zwang sie sich dazu, die spitzen Steinbrocken, die sich in ihren Rücken bohrten, auszublenden, die eisige Kälte, die sich wie ein Mantel der Unbeweglichkeit um sie legte, zu missachten.
Tropf tropf tropf tropf tropf tropf …
Das Tropfen war der einzige Halt, das winzige Ästlein, an das sie sich wie in einer stürmischen Brandung festklammern konnte. Gelegentlich wurde es von dem Knacken der eingebrochenen Holzdielen übertönt. Manchmal wehte eine eiskalte Windböe durch die vielen zerbrochenen Fensterscheiben hinein und erschreckte ihr fast bewusstloses Sein mit seinem klagenden Getöse.
Der Wind flüsterte und wisperte und die Worte seines unsichtbaren Mundes drangen an ihr widerstrebendes Ohr.
„Tod … Tod ist überall. Tod hast du ihnen gebracht …“
Tropf tropf tropf tropf tropf …
Eine nasse Lache sammelte sich unter ihrer rechten Wange. Es roch metallisch. Vertraut. Ihre Nase erkannte den Duft. Blut. Ganz viel Blut.
Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie.
„Tod hast du ihnen gebracht …“
Grausam und hasserfüllt grub sich dieser Satz in die Überreste ihres Verstandes. Ihres sterbenden Verstandes, gefangen in einem sterbenden Körper, gefüllt mit sterbenden Erinnerungen.
Tropf … tropf … tropf …
Der sich verlangsamende Rhythmus des Tropfens schläferte ihren geschundenen Körper ein, dämpfte ihre Furcht. Das Blut unter ihrem Kopf fühlte sich merkwürdig klebrig an. Sie wünschte, sie könnte den Kopf heben oder es gar von sich waschen. So lange, so fest und so gründlich, bis sich ihre Haut auflöste und keine Flecken dieser sündhaften roten Flüssigkeit mehr an ihr hafteten.
Sie versuchte, ihre Augen zu öffnen. Es war so unglaublich schwer. Ihre Lider waren verklebt und die Kruste längst getrocknet.
Denn sie lag bereits eine Ewigkeit hier. Sie gab es auf. Wartete weiter auf die alles verschlingende Dunkelheit, die sie bald überfallen würde.
Ein Schemen schob sich in ihr Blickfeld. Sie blinzelte wieder. Etwas Zischendes ragte drohend über ihr auf. Sie spürte einen keuchenden Atem auf ihrer Haut.
„Wer ist da?“, krächzte sie, wobei sie einen Schwall Blut aushustete und panisch nach Luft rang.
Ein heiseres Lachen ertönte, so laut, dass ihre Knochen vibrierten. Ihr ganzer Körper erbebte, denn noch nie hatte sie ein solch grausames Lachen vernommen.
Außer jenes eine Mal.
Ein trockenes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Sie begriff.
Ein Vampir. Ein Vampir, wie jener, der ihre Mutter auf dem Gewissen hatte. Und nun kam er, um ihr beim Sterben zuzusehen.
„Feuertod für Feuertod …“
Wieder grub sich diese zischende Stimme in ihr Bewusstsein, hielt sie vom Sterben ab.
„Was willst du von mir?“ Sie hasste sich dafür, diese Frage zu stellen, und sie hasste sich dafür, dabei zu weinen.
„Sicher sein, dass ihr alle eure gerechte Strafe erhaltet. Tod habt ihr ihnen gebracht. Nichts als Tod.“
Der Vampir heulte wehklagend auf und riss mit etwas Messerscharfem die Haut ihrer Arme auf. Tod. Tod. Tod. Was wusste er schon vom Tod?
„Ihr habt meine Mutter getötet“, wisperte sie.
Das jammernde Wehklagen wurde lauter. Die Reste der Wände, die noch nicht eingestürzt waren, schwankten bedrohlich. Finger wie Eisenzangen drückten ihre Schläfen zusammen und hoben ihren blutenden Kopf an, schüttelten ihn, bis ihre Zähne aufeinander schlugen.
„Sieh hin, Menschenfrau! SIEH HIN, VERDAMMT NOCHMAL!“
Mühsam klappte sie die Augen auf. Die zwei Dinge, die sie sah, erblickte sie in der falschen Reihenfolge:
Ein furchterregend, aber wunderschönes Wesen, mit hellen Augen, deren Blick ihr durch Mark und Bein ging.
Und ein paar falsche Fangzähne, die in seiner rechten Hand
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