Schattenwesen
sie reagiert haben, als ich ihnen erzählte, dass ich Kunst studieren will? Sie haben gesagt, dass sie mir keinen Cent dafür geben werden!« Sie atmete tief ein. »Also habe ich behauptet, dass ich mich für Jura eingeschrieben habe. Angeblich bin ich jetzt auf einer Sprachreise in England, aber sobald alles herauskommt – war’s das! Für meinen Traum brauche ich dringend das Geld …«
Ihre Stimme kippte und ich hörte einen unterdrückten Schluchzer. Was waren das für Geständnisse? Die perfekte Anna! Noch einmal linste ich um die Ecke und sah, wie Cyriel den Arm um sie legte, während sie sich verzweifelt mit einem Papiertaschentuch durchs Gesicht wischte. Schnell verschwand ich wieder im Halbdunkel der Tür.
»Jedenfalls«, schniefte Anna, »habe ich ein tierisch schlechtes Gewissen deshalb. Meinst du, ich sollte meine Eltern anrufen – und ihnen alles beichten? Ich meine, da ich das Geld ja von Herrn Nachtmann bekomme, kann mir das Donnerwetter doch egal sein.«
»Nur du kannst entscheiden, welchen Weg du gehen willst«, sagte Cyriel.
Ich vermutete, dass er sie gerade anlächelte, denn sie lachte unsicher unter Tränen auf – zwischen ihnen eine ganz neue Vertrautheit, die Cyriel gerade geschaffen hatte.
Vollkommen unerwartet legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich zuckte zusammen und nur mit Mühe konnte ich einen Aufschrei unterdrücken. Als ich mich umwandte, stand vor mir Gabriel, der – überrascht von seiner Wirkung auf mich – breit grinste.
»Der Lauscher an der Tür kann eigentlich nichts dafür«, hauchte er und zwinkerte mir zu. Dann warf er einen kurzen Blick in das Verlies, zog die Augenbrauen hoch und bedeutete mir, ihm zu folgen.
Wir gingen über die Leiter und die Kellertreppe nach oben und durch die Haustür hinaus, in absolutes Schweigen gehüllt. Natürlich war ich neugierig auf die angekündigte Burgtour. Aber ich war auch etwas nervös, weil ich mir nicht ganz sicher war, was Gabriel sich davon versprach. Oder ich mir. Nun, er sah gut aus, größer als Cyriel und blond, und seine schlaksige, humorvolle Art war wesentlich vertrauenerweckender als Cyriels geheimnisvolle Düsternis. Trotzdem empfand ich Gabriel einfach als Freund. Als Mann interessierte er mich nicht.
Auf der Wiese hinter dem Haus blieben wir stehen. Es war bereits dunkel und Gabriel zog zwei Taschenlampen aus seiner Jackentasche.
»Ich hoffe, ich habe dich nicht bei etwas Wichtigem gestört?«, fragte er interessiert.
Ich schüttelte den Kopf. »Was Anna macht, ist ihre Sache«, sagte ich und fand die Antwort ganz genial, weil siebedeutete, dass ich mir nur um Anna Sorgen machte. Ob Gabriel das schluckte?
»Lass die beiden! Wenn zwei Aufschneider sich begegnen, verstehen sie sich eben auf Anhieb.«
Aha. Er mochte also beide nicht. Bei Anna fand ich das ja okay. Aber wollte Gabriel mit seiner offenen Abneigung erreichen, dass ich Cyriel abhakte? Oder bildete ich mir jetzt zu viel ein?
»Vergiss die beiden! Vergiss mal deine Arbeit, deine Sorge um Anna – und dieses olle Fresko. Willst du die richtige alte Burg sehen?«
»Du meinst, die Ruinen?«, lächelte ich.
»Nix Ruinen! Der obere Teil der Burg mag ja schon lange tot sein, aber da unten …«
Er zeigte mit dem Strahl seiner Taschenlampe auf das Loch vor unseren Füßen – in das man ohne Lampe problemlos hineinstürzen konnte.
»… da ist die Vergangenheit noch lebendig. Traust du dich?«
Als ich einen zweifelnden Blick in die Dunkelheit warf, lachte Gabriel. »Du wolltest doch was sehen! Also komm!«
Er kletterte voraus und ich leuchtete ihm, solange er seine Lampe nicht festhalten konnte. Seine schnellen Griffe ließen vermuten, dass dies nicht sein erster Ausflug in die Unterwelt war. Und sein verletztes Bein schien ihn hierbei überhaupt nicht zu stören.
Schon bald sprang er den letzten Meter in die Tiefe und stand sicher am Boden. Als Nächstes leuchtete er mir, und ich konnte bald sehen, dass es nicht so schwierig war, wie ich gedacht hatte. Die verfallenen Steine waren angeordnet wie Stufen. Gabriel gab von untenAnweisungen, wo ich mich festhalten sollte, und bald stand ich neben ihm.
»Na bitte, ich wusste, dass du mutig bist. Nicht wie Lady Anna«, sagte er und wandte sich um in die Dunkelheit.
Ich folgte ihm.
Die Lichtstrahlen unserer Lampen wanderten über graue Mauern und felsigen Boden, auf dem immer wieder Wasser stand. Der gemauerte Gang führte uns tief unter die Erde.
Gabriel ging schnell und dabei fiel auch sein
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