Schattenwesen
Wie war das mit dem Schubladensystem?«
Ich ignorierte seinen Sarkasmus. »Im Mittelalter gab es das Symbol der Sanduhr. Das Symbol für den Tod oder besser für die Endlichkeit des Lebens, besonders wenn nur noch wenig Sand darin war. Aber hier ist es eindeutig keine Sanduhr.«
»Und die Schatten, die in verschiedene Richtungen zeigen?«, fragte er beherrscht.
Ich legte den Kopf schief. »Das Rätsel ist allerdings knifflig. Ich glaube, dass es der Maler selbst war, der die Schatten falsch dargestellt hat. Und wenn es Absicht war, könnte ich mir vorstellen, dass es eine Beleidigung war, die sich gegen seine Auftraggeber richtete.«
»Wie meinst du das?«, fragte Cyriel bemüht gleichgültig. »Dass er einzelne Personen nicht mochte, wissen wir doch schon.«
Ich zögerte, weil ich selbst nicht genau wusste, wie ich es formulieren sollte. »Es ist, als wollte er sagen, die Menschen lebten in einer anderen … Realität als ihre Umgebung.«
Cyriel starrte mich an. »Und was schließt du daraus?«
»Schließen kann man daraus gar nichts, finde ich. Vielleicht hat die Familie sich malen lassen, weil sie wusste, dass sie alle todkrank waren. Vielleicht haben sie sich deshalb mit dem Maler zusammen in das Verlies zurückgezogen, um niemanden mehr anzustecken und hier zu sterben.«
Cyriel wandte sich abrupt um und betrachtete die andere Seite der Wand, mit dem Rücken zu mir. An einer besonders verschmutzten Stelle fuhr er mit den Fingern leicht über die schwarzen Punkte.
»Bist du mit der Reinigung des Freskos eigentlich noch im Zeitplan?« Seine Stimme klang nicht wütend. Aber auch nicht freundlich. »Vielleicht solltest du heute noch etwas arbeiten.« Damit ging er zur Tür.
»Werde ich nicht, du Kerkermeister!«, schimpfte ich ihm sehr, sehr leise hinterher.
Die Tür öffnete sich noch einmal einen Spalt, und ich sah Cyriels Hand an der Klinke, als wollte er mir etwas antworten. Hatte er mich doch gehört? Aber die Tür schloss sich langsam hinter ihm und ich war wieder allein.
Jessy
Die anderen gingen und Jessy ahnte, dass es bald Zeit für das Abendessen war. Aber sie tastete sich vorwärts, fühlte Stein um Stein in der Mauer. Wieder diese Wand, die glücklich machte. Die von innen wärmte und ihr das Gefühl gab, hierherzugehören. Sie wollte gar nicht mehr woanders sein, nicht mehr essen und nicht mehr schlafen. Was war das für ein Ort?
Ihre Fingernägel kratzten über rauen Putz. Fugen. Und plötzlich erfühlten sie einen Spalt. Eine Fläche aus Holz. Und dann eine Klinke. Eine Tür! Jessys Atem ging noch schneller als vorher. Sie drückte die Klinke hinunter. Sie ließ sich öffnen! Das hätte sie nicht zu hoffen gewagt! Langsam, Schritt für Schritt, betrat Jessy den Raum.
»Hallo?«
Sie hatte eigentlich nur gerufen, weil sie den Hall ihrer Stimme hören wollte. Ihr Klang zeigte ihr, dass sie in einem niedrigen Gewölbe stand. Aber etwas reagierte auf ihren Ruf. Etwas krabbelte und kratzte. Dann kam es fast lautlos näher. Wie eine Fledermaus wischte es dicht an ihrem Kopf vorbei … nein, wie viele Fledermäuse! Jessy war überrascht, aber ohne Angst. Sie spürte die Wesen um sich herum, ihren Luftzug, ihre Aufregung, obwohl sie keinen Ton von sich gaben. Jessy streckte die Arme aus, wollte ihnen anbieten, sich auf ihre Hände zu setzen oder sie zu berühren. Die Kraft, die Jessy wie Wellendurch die Wand empfangen hatte, ging von diesen Flatterwesen aus. Nicht ihre Körper berührten Jessy, sondern ihre Gefühle gingen auf sie über. Sehnsucht, Verlust und Wärme. Was waren sie?
Sie hatte kein Zeitgefühl mehr, aber sie musste schon eine Weile so gestanden haben, als plötzlich die Wesen zurück in ihre Ecken stoben. Jessy spürte, dass sie nicht mehr allein mit ihnen war.
»Wer ist da?«, flüsterte sie und wandte den Kopf. Würde der Jemand sie wieder anschweigen? Panik machte sich in ihr breit. Wie hatte sie nur die Zeit und sich selbst so vergessen können?
Der Jemand kam näher. Völlig lautlos – das war vermutlich derjenige, der ihr beim Essen diese Angst einjagte.
»Warum musst du nicht atmen?« Sie konnte sowieso nicht fliehen. Deshalb hatte sie beschlossen zu reden.
Der Jemand atmete laut auf. »Ich kann atmen, wenn ich will. Aber wie hast du diese Tür gefunden?«
»Weil sie da ist.«
»Das ist keine Antwort.«
»Aber wahr. Warum schleichst du so lautlos durch die Gänge und beobachtest mich?«
Jessy wusste nicht, woher sie auf einmal den Mut nahm. Doch langsam hatte sie
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