Schattenwesen
einen als Reserve.
Gleich darauf stand ich wieder vor der Truhe und leuchtete die Wand gründlich mit der Taschenlampe ab. Die Tür war verschwunden! Wer spielte hier Spielchen mit mir? Oder war es mein eigener Verstand, der Seifenblasen produzierte? Nein! Ich hatte mich bestimmt nicht getäuscht!
Einer Eingebung folgend schaltete ich die Taschenlampe aus. Die Tür hatte es doch gegeben! Wie gebannt starrte ich auf die Stelle, wo sie sein musste. Aber etwas war anders als vorhin: Der Mond war durch die Wolken gebrochen und linste durch die Fenster. Meine Finger glitten über die Stelle, wo eben noch der Spalt gewesen war, und dort die Klinke. Aber da war nichts! Einfach gar nichts!
Nach einer Weile wandte ich mich ab und ging zurück in mein Zimmer. Meine Gedanken fuhren Karussell, immer schneller und bunter und in immer engeren Kreisen. Bis alles stillstand und ein Wort zurückblieb: Schwarz! Was war das? Die Farbe der Dunkelheit? Die Unfähigkeit des menschlichen Auges, etwas zu erkennen? Ein toter Winkel unseres Farbempfindens? War Dunkelheit wirklich mehr als nichts? Das würde das Gefühl erklären, das ich bei Dunkelheit hatte.In Annas Zimmer betrachtete ich den Versuchsaufbau, den ich nach der Formel meines Vaters vorbereitet hatte. Reibschale, Erlenmeyerkolben, Pipetten und Reagenzgläser standen bereit. Alles war perfekt. Und dennoch war ich unsicher. Bis vorhin hatte ich nur gefürchtet, dass ich etwas falsch machen könnte. Chemie war zwar in der Schule eins meiner Lieblingsfächer gewesen, aber deswegen war ich noch lange keine Chemikerin. Jetzt wuchs allerdings eine ganz andere Angst in mir: Was, wenn ich alles richtig machte? Wenn ich das absolute Schwarz gefunden hatte? Was war in diesem Schwarz? Eine physikalische Kraft? Etwas Magisches? Etwas Lebendiges?
Trotzdem fing ich an. Vorsichtig nahm ich die grünen Kristalle des Nickelsulfats, füllte sie in eine Reibschale und zerstieß sie mit einem Pistill so fein wie möglich. Danach schüttete ich sie in den Erlenmeyerkolben und fügte das Phosphorsalz hinzu. Ich mischte, maß genau ab und gab weitere Chemikalien dazu in der Hoffnung, dass ich mit diesen Stoffen richtig umging und dass meine Handschuhe und mein Mundschutz ausreichend waren. Später kam die Säure. Langsam und fortwährend rührte ich mit dem Glasstab um. Als sich endlich die neuen dunklen Kristalle gebildet hatten, filtrierte ich sie und fügte abschließend Zellulose als Bindemittel hinzu. Das Ergebnis war eine sehr raue und sehr dunkle Paste in einem kleinen Glasbehälter. Ein bisschen Farbe. Völlig harmlos. Oder nicht?
Mit zitternden Fingern trug ich etwas davon mit einem schmalen Pinsel auf eine Leinwand auf. Jetzt musste ich warten, bis es getrocknet war. Wie erstarrt setzte ich mich auf Annas Bett, zu müde, um einzuschlafen, zu nervös, umetwas zu denken. Erst nach einer Weile würde ich sehen, ob ich Erfolg gehabt hatte. Ich glaubte zu wissen, wie ich erkennen konnte, dass es richtig war. Herr Nachtmann hatte gesagt, dass der Anblick in den Augen schmerzte.
Also stellte ich mich zwei Meter vor mein neues Schwarz und ging langsam darauf zu. Meine Augen brannten vom Starren … Aber sonst geschah nichts. Dieses Schwarz hier war schlichtes, ganz normales Amselfedernschwarz. Damenhandtaschenschwarz. Weit davon entfernt, die Welt zu verändern.
Noch einmal betrachtete ich die Anleitung meines Vaters, konnte aber keinen Fehler finden. Außer der Tatsache, dass ich einfach mit Chemikalien nicht gut genug umgehen konnte, war alles okay. Enttäuscht rollte ich die Anleitung zusammen und steckte sie in meinen BH. Dann sank ich wieder auf Annas Bett, streckte mich todmüde aus. Die Nacht hatte sich ja gelohnt! Genauso gut hätte ich Kuchen backen oder die Buchhaltung machen können. Oder schlafen. Schlafen war ein guter Gedanke!
Als ich hochfuhr, war es noch immer Nacht, bleiches Mondlicht schien ins Zimmer. Was mich geweckt hatte, wusste ich nicht, vielleicht mein Traum. Aber etwas stimmte nicht. Mit angehaltenem Atem erhob ich mich. Aus der Ecke neben der Tür wuchs etwas Dunkles. Ein Schatten! Halb lag ich, halb saß ich, der Arm, auf den ich mich stützte, begann schon zu schmerzen, aber ich war wie erstarrt und konnte mich nicht mehr rühren.
Es war wie bei meiner ersten Begegnung im Atelier meines Vaters. Das Ding bewegte sich nicht nur im Raum, sondern auch in sich wie eine Rauchwolke. Wobeisie nicht aus Rauch bestand, eher aus Schatten, die keine bestimmte Form annehmen
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