Schattenwesen
wollten und immer wieder zerflossen. Trotzdem bestand für mich kein Zweifel: Dieses dunkle Etwas war ein lebendiges Wesen!
Es waberte vor dem Bild hin und her, bevor es ganz langsam hineinfuhr. Aber das Schwarz sog es nicht vollständig auf. Stattdessen sauste es plötzlich wie angestochen wieder heraus, hing eine Weile in der Luft und … schien zu überlegen. In diesem Moment schrie ich, ohne dass ich es wollte. Vielmehr wollte ich, dass der Schatten verschwand. Doch nun wandte er sich in meine Richtung. Obwohl er kein Gesicht hatte, konnte ich spüren, dass er mich musterte. In Panik fiel mir nichts anderes ein, als noch einmal zu schreien – und gleichzeitig warf ich ein Kissen nach dem Ding. Es zerstob wie eine Rauchwolke und fügte sich wieder zusammen. Dann schoss es in Richtung Mondlicht, glitt durch den winzigen Spalt zwischen Fenster und Rahmen nach draußen und war verschwunden. Kurz darauf wurde die Tür aufgerissen und Cyriel stand vor mir.
Diesmal machte ich ihm keine Vorhaltungen, weil er ohne Erlaubnis ins Zimmer gekommen war. Ich stürzte einfach auf ihn zu und umarmte ihn. Er erwiderte die Umarmung und meine Haut begann zu prickeln.
»Was ist passiert?« Vollkommen unvermittelt schob er mich von sich.
Jetzt war mir die ganze Aktion peinlich. War ich ihm lästig?
»Da war … etwas im Zimmer.«
»Etwas?«, fragte er forschend.
»Ein Schatten!«, sagte ich und gleichzeitig wirbeltenmeine Gedanken durcheinander. Wie viel konnte ich ihm sagen, ohne dass er mich für verrückt hielt? Nun, den Punkt hatten wir wahrscheinlich schon überschritten.
Cyriels Blick wanderte über meine Aufbauten und die Leinwand mit dem schwarzen Fleck.
»Es ist dir nicht gelungen«, sagte er leise. »Aber ich glaube, du bist sehr dicht dran!«
Verblüfft sah ich ihn an. »Du weißt, dass es nicht gelungen ist?« Als er nicht antwortete, nickte ich. »Ich habe mir solche Mühe gegeben!«
»Du hast also die Formel. Aber du enthältst sie Ruben vor«, stellte er mit einem zufriedenen Unterton fest. »Du hast sie doch hoffentlich gut versteckt?«
»Ja.«
Ich musste mich zwingen, nicht mit der Hand an meinen Ausschnitt zu fassen, obwohl ich zu gern überprüft hätte, ob das Papier noch da war.
»Habe ich dir nicht gesagt, dass sie gefährlich ist?«, raunte er. »Du musst aufpassen …«
Er kam näher. Als ich schon dachte, dass er mich noch einmal berühren würde, wandte er sich um zu der Leinwand und sah sie an, als gäbe es mehr zu sehen als einen düsteren Fleck.
»Auch wenn du es nur versuchst, wirbelst du die Elemente auf. Es geht nicht einfach um eine Farbe. Das schwärzeste Schwarz ist weit mehr. Deshalb wollte dein Vater es auch vernichten.«
»Wissen hier eigentlich alle mehr über ihn als ich?«, fuhr ich auf. Warum weißt du so viel über die Erfindung meines Vaters? Jetzt rede doch endlich! Habe ich nicht ein Recht, alles zu erfahren? Ist das Schwarz wirklich eineGefahr? Oder verursacht es Wahnvorstellungen? Werde ich so enden wie mein Vater?«
Wieder empfand ich Angst und die schien realer zu sein als die Schatten, die mich in letzter Zeit verfolgten.
»Ich habe auf der Galerie eine versteckte Tür gespürt. Hat das etwas hiermit zu tun?«, fügte ich vorsichtig hinzu.
Das Schweigen zwischen uns war wie ein dicker Vorhang, der sich über meine Sinne legte. Ich suchte Cyriels Blick, aber der wich mir aus, starrte auf die Leinwand.
»Wo?«, fragte er schließlich.
»Auf der Galerie.«
»Dort gibt es drei Türen.«
»Ja, das ist mir bekannt«, seufzte ich.
»Und du solltest nicht im Dunkeln im Haus umherlaufen.«
Seine Worte ließen mich zusammenzucken. »Dunkel? Du warst also auch da? Auf der Galerie?«
»Nein.« Cyriels Augen blitzten, obwohl seine Stimme noch immer unbeteiligt wirkte. Er atmete tief durch. »Warum bist du so angespannt? Du hast doch selbst gesagt, dass du die Tür ›gespürt‹ hast. Deshalb dachte ich, dass es dabei dunkel gewesen sein muss.« Seine Hand strich ganz leicht über meine Wange. »Du bist nicht verrückt! Nur müde. Vergiss erst mal alles und schlaf!«
»Der Schatten war sehr real«, protestierte ich. »So was sieht man nicht einfach, weil man müde ist!«
Er legte den Kopf schief und auf seinen Lippen lag eine seltsame Mischung aus Lächeln und Traurigkeit.
»Chemikalien können durchaus leichte Halluzinationen hervorrufen. Du hast heute eine Menge Zeug eingeatmet. Vielleicht war etwas dabei, das deine Wahrnehmungverändert hat. Komm, geh ins Bett!
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