Schattenwesen
größere Angst vor der Stille. Reden bedeutete, dass sie noch da war.
»Tut mir leid«, sagte der Jemand. »Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt.«
»Heute nicht. Aber gestern«, gestand sie.
»Gestern war ich nicht hier.«
Jessy überlegte. Aber warum sollte sie ihm trauen?
»Du solltest nicht hier sein«, sagte der Jemand. »Wenn die Tür zufällt, bist du gefangen, man kann sie von innen nicht öffnen.«
»Das war mir nicht bewusst«, gestand Jessy.
»Du bist blind, nicht wahr?«, fragte er leise.
Jessy nickte.
»Darf ich dich führen? In wenigen Minuten gibt es Abendessen.«
»Was für ein Raum ist das?«, fragte sie. »Was sind das für Wesen?«
»Nichts«, erwiderte der Jemand. »Sie sind nichts. Und das trifft es sogar ziemlich genau«, fügte er mit traurigem Unterton hinzu.
»Wie sehen sie aus?«
»Hier unten gibt es keine Erklärungen«, sagte er sanft. »Bitte komm mit zurück. Du musst dringend etwas essen. Ich habe gesehen, dass du gestern nichts angerührt hast.«
Jessy spürte, wie etwas Kühles ihre Schulter berührte und sie sanft zur Tür führte, in die Richtung, in der die anderen lebten. Sie wagte nicht, sich zu widersetzen. Aber sie schwor sich, an diesen Ort zurückzukommen. Diese Wesen waren mehr als nichts. Viel mehr.
Kira
Am Ende des Tages war ich erschöpft vom Lügen. Das Schwarz hatten wir natürlich nicht gefunden und einen weiteren Tag im Labor wollte ich Herrn Nachtmann und mir gern ersparen. Außerdem machte mich Cyriels Nähe dort nervös.
Bei der Arbeit am Fresko ließ er mich hingegen jetzt meist allein. Ob das ein Zeichen des Vertrauens oder ein Zeichen der unüberwindbaren Abneigung war, mochte ich nicht entscheiden. Oder es ging ihm wie mir: Ich machte ihn nervös. Bei dem Gedanken musste ich lächeln, obwohl ich mir geschworen hatte, Cyriel aus meinen Gedanken zu verdrängen.
Am Abend fiel ich früh in einen tiefen Schlaf – bis drei Uhr morgens. Ich hoffte nur, dass niemand sonst meinen Wecker gehört hatte. Nach einem Kurzbesuch im Bad und einer Handvoll kalten Wassers ins Gesicht schlich ich mich mit meiner Taschenlampe nach unten. Alles ruhig!
Diesmal leuchtete ich die ganze Galerie ab, bevor ich dort vorbeiging, auch die Stelle, an der auf dem Foto eine Tür zu sehen gewesen war. Ob ich je herausfinden würde, warum meine Kamera etwas anderes gesehen hatte als ich?
Nach einer halben Stunde war ich bereits zweimal hoch- und runtergelaufen. Nun trug ich die Tasche zumletzten Mal nach oben. Darin befanden sich Chemikalien in Gläsern, die ich in Handtücher gewickelt hatte, damit sie beim Transport um Himmels willen nicht kaputtgehen konnten. Sorgen machte ich mir außerdem um meine Taschenlampe, die unten im Keller schon zweimal geschwächelt hatte. In der Eingangshalle machte sie dann prompt schlapp. Mist!
Heute Nacht gab es keinen Mond, der das Haus bleich erleuchtete. Meine Umgebung war so stockdunkel, dass ich sonst wo hätte sein können. Als ich den Handlauf der Treppe gefunden hatte, war ich heilfroh. Langsam zählte ich die Stufen, obwohl ich nicht wusste, wie viele es sein sollten, mit der rechten Hand immer am Geländer, die Tasche fest in der linken.
Die Nacht bringt manchmal bizarre Gedanken. Hatte ich nicht schon immer das Gefühl gehabt, dass die Dunkelheit eine Art Sog sei, worin jeder für sich allein war? Als befände man sich in einer anderen Welt jenseits deren, die wir kannten? In einer Stimmung, in der das Selbstverständliche nicht existierte.
Auf der Galerie tastete ich mich vorsichtig vorwärts. Als mein Fuß gegen die Truhe stieß, erschrak ich vor dem Geräusch. Verdammt, Kira, sei leise!, schimpfte ich mit mir selbst. Dann fuhr ich mit der Hand an der Wand entlang – und fühlte wirklich das Unmögliche! Den Spalt einer Tür! Eine Tür hinter der Truhe! Das konnte doch nicht sein. Heute Morgen war sie definitiv noch nicht da gewesen!
Mit pochendem Herzen blieb ich eine Weile stehen und versuchte irgendeinen Umriss zu erkennen. Aber die Dunkelheit war undurchdringlich.
Als ich weitertastete, berührte meine Hand eine Klinke. Und eine Neugier, die tief aus meiner Kindheit zu kommen schien, machte mich so mutig, die Klinke herunterzudrücken. Die Tür ließ sich öffnen. Ich hätte über die Truhe hinwegsteigen und hineingehen können.
Mein Verstand protestierte und machte mir bewusst, dass es Wahnsinn war – ohne Licht! So schnell es ging, tastete ich mich hoch in mein Zimmer und holte zwei Sätze neue Batterien,
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