Schattenwesen
Ich vernichte in der Zwischenzeit dieses Bild und räume alles wieder zurück ins Labor. Niemand wird herausfinden, was du heute Nacht getan hast.«
»Meinst du?«, fragte ich, noch immer verwirrt und kaum zu einer Widerrede in der Lage. »Du wirst mich also nicht an Herrn Nachtmann verraten?«
Er sah mich ernst an und schüttelte den Kopf. »Tu du es auch nicht!«
»Warum?«, fragte ich, aber wie immer, wenn es interessant wurde, verschwand Cyriel mit verschlossener Miene.
Ich ging in mein Zimmer, unfähig, mich noch einmal ins Bett zu legen. In einem erstaunlich wachen Zustand stellte ich fest, dass mein Unterbewusstsein mir etwas zuflüstern wollte. Cyriel hatte das Bild und er war der Meinung, dass ich mit meiner Erfindung dicht dran war. Konnte ein Chemiker das Schwarz von der Leinwand ablösen und analysieren? War es das, was er vorhatte?
Die Treppe knarrte leicht, als ich hinunterlief, aber das störte mich jetzt nicht. Wohin mochte Cyriel gegangen sein? Da ich nicht wusste, wo er schlief, führte mich mein Weg direkt zu seinem Arbeitszimmer. Der Gang war mit Fackeln erleuchtet, also musste jemand hier gewesen sein. Ich riss die Tür auf und blieb schwer atmend auf der Schwelle stehen. Das Arbeitszimmer lag im Dunkeln und einen Lichtschalter schien es nicht zu geben. Also schnappte ich mir eine Fackel vom Gang und beleuchtete damit den Raum.
Cyriels Laptop lag geschlossen auf dem Tisch. Konnte er inzwischen hier gewesen sein und das Bild abgestellthaben? In einer Nische neben dem Bücherregal entdeckte ich einige Leinwände, die nebeneinander mit dem Gesicht zur Wand standen. Sie zogen mich magisch an, als müsste ich sie mir ansehen. Auch wenn ich Cyriels Privatsphäre mit Füßen trat, schließlich würde er es ja nicht erfahren!
Angestrengt lauschte ich noch mal, aber es war absolut still. Also nahm ich das vorderste Bild in die Hand und legte es auf den Schreibtisch. Gleich darauf fuhr ich erschrocken zurück. Es war ein Porträt, heftigster Expressionismus. Aber so fremd das Mädchen mir auch vorkam – auf verrückte Art und Weise war es mir sehr ähnlich! Meine Augen funkelten mir von der Leinwand entgegen! Die fein geschwungenen Linien trafen genau meinen skeptischen Gesichtsausdruck, wenn ich morgens in den Spiegel blickte. Andererseits hatte ich den Eindruck, dass ein Besessener sich auf dieser Leinwand ausgetobt hatte. Die Farben! Nichts entsprach der Wirklichkeit! Der Himmel im Hintergrund war tiefrot – genau wie meine schrecklichen Augen. Meine Haare waren algengrün, meine Lippen lila und meine Hautfarbe erinnerte an mattgraues Metall. Hatte hier jemand seine Wut auf mich verewigt? Oder – nachdem ich schon ständig Geister hörte und sah – war das eine Art Voodoo-Objekt, mit dem mich jemand in den Wahnsinn treiben wollte? Schnell wandte ich mich von dem Bild ab, um mir die anderen in der Nische anzusehen. Sie alle ähnelten dem ersten, sie alle waren in irrsinnigen Farben gemalt, aber sie stellten verschiedene Personen dar. Jolanda, Ruben, Antonia …
»Hast du dafür eine Erklärung?«, fuhr mich eine Stimme an. Erschrocken wirbelte ich herum. Vielleicht hätteich die Tür schließen sollen, dann hätte ich ihn zumindest hereinkommen hören. So aber stand ich wie erstarrt vor ihm – wie ein Reh im Scheinwerferlicht, bevor es überfahren wird.
»Du meinst, eine Erklärung für das da? « Ich deutete auf mein Porträt und hoffte, dass die Flucht nach vorn funktionieren würde. Jetzt war er in Erklärungsnot, nicht ich! »Ist es das, was du in mir siehst? Eine Gift speiende Hexe?«
Cyriels Gesicht wurde rot. Oder war das der Widerschein der Fackel, die ich in seine Richtung hielt?
»Ist es nicht meine Sache, was ich in meinen Räumen tue?«, versuchte er sich zu rechtfertigen.
»Wenn du es mit meinem Gesicht tust, dann nicht!«
»Hast du mich gesucht?«, fragte er. Unter dem Arm trug er noch immer meine Leinwand, in der anderen Hand hielt er ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit. Er war also im Labor gewesen. Warum?
Ich nickte. »Das Bild … das Schwarz … ich möchte es zurückhaben und werde es lieber selbst vernichten.«
Cyriels Augen wurden wieder dunkler, als er näher kam. »Was dachtest du, was ich mit dem Bild vorhabe?«
»Ich will es nur einfach selbst tun«, erwiderte ich nervös, als er direkt vor mir stand. Wie seltsam, dass meine Atmung in seiner Nähe nicht immer zuverlässig funktionierte!
Er sah mir fragend ins Gesicht und schien mal wieder darin zu
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