Schattenwesen
Außerdem hatte sie mich neugierig gemacht.
Jessy nickte. »Seit meiner Geburt. Aber nun erzähl!«
»Du zuerst!«
Das Mädchen lachte bitter auf. »Du denkst, ich bin genauso verkorkst wie die anderen und dass du mir nicht trauen kannst.«
Bingo! Jessy hatte offensichtlich ein gutes Gespür für Stimmungen. Dennoch begann sie von sich zu erzählen. Eine seltsame Geschichte. Das mit dem Park und dem Ball klang ja noch ganz verständlich, aber dass ein »starkes Gefühl« sie durch einen Gang hierhergezogen haben sollte und dass sie sich nicht an alles erinnern konnte … na ja!
»Jetzt sag schon!«, drängte sie. »Weißt du noch, wie du hergekommen bist?«
Ich überlegte, wie viel ich ihr erzählen konnte. Irgendwie wollte ich ihr vertrauen. Nicht nur weil ich auf dieser Seite der Tür eine Freundin gut gebrauchen konnte. Jessy wirkte trotz ihrer Blindheit unglaublich selbstbewusst. Und diese Mischung von Hilflosigkeit und unbeugsamer Stärke schlug mich in ihren Bann.
»Mein Name ist Kira. Ich war in einem Haus zu Gast und bin durch eine Art Geheimtür gekommen«, begann ich. »Und dann bin ich gleich von den Leuten dort unten in Empfang genommen worden. Sie haben mich sehr genau unter die Lupe genommen und waren sich nicht so ganz einig, wofür sie mich halten sollten. Sie haben mich ziemlich brutal am Arm gezerrt, damit ich ihnen einen Ausgang zeigen soll. Sind sie … Ist das hier eine Art Psychiatrie oder so was?«
Jessy schüttelte ernst den Kopf. »Das dachte ich auch zuerst. Bist du vor ihnen auf der Flucht?«
»Ja.«
Sie schwieg eine Weile. Ihre Worte wählte sie ganzvorsichtig: »Sie sind verzweifelt. Ich weiß nicht, wie lange sie schon hier sind. Ich zähle die Tage, aber aus irgendeinem Grund können die meisten von ihnen das nicht.«
»Das klingt, als wären es ganz normale Menschen«, warf ich ein. »Wusstest du, dass sie keinen Schatten haben?«
Mein Blick fiel auf Jessys Matratze. Weil sie so normal wirkte, hatte ich nicht darauf geachtet. Sie war eine von ihnen!
»Habe ich einen Schatten?«, fragte Jessy leise.
Mein Schweigen dauerte eine Sekunde zu lang. An ihrem Gesicht sah ich, dass sie verstanden hatte.
» Das ist es also …«, flüsterte sie tonlos.
»Was?«, fragte ich nervös. »Eine Begegnungsstätte für Leute, die ohne Schatten geboren wurden?«
Jessy bemühte sich um ein Lächeln, aber es fiel ihr schwer. »Sie reden nie darüber«, fuhr sie fort. »Aber ich glaube, sie alle suchen mit einer tiefen Besessenheit nach etwas. Nach einem Teil von sich selbst. Als ich herkam, hatte ich ein Gefühl von Verlust. Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich im Park verloren habe und was mich hergeführt hat.«
»Kannst du etwas deutlicher werden?«, fragte ich mit einem wenig überzeugenden Lachen. Ich hoffte, damit die Spukgeschichte wegzuwischen, die ihre Worte in meinem Kopf geweckt hatten.
Jessy legte den Kopf wieder etwas schief und zog die Mundwinkel hoch, ohne wirklich zu lächeln. »Vielleicht kann ich es dir später zeigen.«
»Ja. Vielleicht später«, sagte ich vorsichtig, während ein Kribbeln in meinem Nacken mir Warnungen schickte. Noch ein bisschen länger in dieser Umgebung und ich würde auch verrückt!
»Wie lebt ihr hier eigentlich? Gibt es keine … Betreuer, die sich um euch kümmern?«
»Betreuer!« Jessy lachte trocken auf. »So kann man ihn nicht nennen. Er ist ein Wesen, das nicht aus Fleisch und Blut ist. Er atmet nicht und er hat keine Schritte. Aber er bringt uns sehr pünktlich dreimal am Tag Essen und ab und zu versorgt er uns mit frischen Decken, Matratzen, Medizin oder Kleidung.«
»Ein … Wesen?«
Ich erinnerte mich an den Satz, der mich vorhin im Keller zutiefst beunruhigt hatte. Sie ist ein Mensch. Daraus hatte ich gefolgert, sie wären keine Menschen. War es anders? Wer lebte wohl hier, der kein Mensch war? Aber war diese Idee nicht völlig verrückt? Dann fiel mir der Schatten wieder ein, der in Paps’ Atelier, im Verlies und in meinem Schwarz aufgetaucht war – den ich als erstes Anzeichen von Wahnsinn eingeordnet hatte. Entweder hatte ich jetzt doch den Verstand verloren oder an diesem Ort gab es tatsächlich Dinge, die jenseits aller Logik lagen.
»Wenn er keinen Atem und keine Schritte hat – wie hast du das Wesen dann gehört?«, bohrte ich nach. »Und du sagst ›er‹ – kann es nicht auch eine Sie sein? Oder ein Es?«
»Ich habe mit ihm gesprochen«, sagte Jessy und hob den Kopf dabei, als müsse sie sich im Nachhinein noch Mut
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