Schattenwesen
Bloß … die Tür war verschlossen!
Ich konnte es nicht glauben! In Gedanken war ich längst hindurchgegangen, war auf der sicheren Seite. Es durfte einfach nicht sein, dass ich hier bleiben musste – in dieser verrückten Welt!
»Wir sind wahrscheinlich eine Minute zu spät gekommen«, sagte Jessy, als müsse sie sich entschuldigen. »Das Wesen verschwindet immer gleich nach dem Verteilen der Teller. Das nächste Mal sind wir früher da!«
Das nächste Mal … Ihre Stimme klang so zuversichtlich und freundlich, während ich langsam verzweifelte.
»Glaubst du denn, wir bekommen noch mal eine Chance?«
»Natürlich kann es sein, dass er die Tür immer abschließt, während er das Essen bringt«, überlegte Jessy, »und es war nur ein Zufall, dass er es heute vergessen hat, als du hereinkamst.«
Mein Magen zog sich zusammen. Wenn das stimmte, würde ich nie wieder zurückkommen!
»Ich finde es unlogisch«, dachte Jessy weiter laut nach, »dass niemand von den anderen die Tür bisher gefunden hat. Ich meine, sie ist doch wohl kaum zu übersehen am Ende dieses Gangs … Hast du vielleicht einen Trick, mit dem du sie sehen kannst und die anderen nicht?«
»Allerdings«, gab ich zu. Warum sollte ich es ihr nicht sagen? »Es gibt in diesem Haus Türen, die nur in absoluter Dunkelheit existieren. Deine Leute haben den Gang wahrscheinlich mit Fackeln abgesucht.« Neben der Tür entdeckte ich eine Halterung und begriff. »Wenn wir Glück haben, macht sich Cyriel tatsächlich nicht die Mühe, die Tür abzuschließen, wenn er nicht lange bleibt. Wenn er eine brennende Fackel hierlässt, kann niemanddie Tür sehen. Und wir müssen nur den richtigen Zeitpunkt erwischen.«
Jessy nickte entschlossen. »Und jetzt gehen wir frühstücken.«
Ich schüttelte heftig den Kopf. » Du gehst frühstücken! Mit diesen Zombies will ich nichts zu tun haben!«
Jessy schnaubte. »Ich gehöre auch zu diesen Zombies! Schon vergessen?«
Ja, ich hatte es vergessen. Nachdenklich betrachtete ich sie. Vielleicht würde ich ja auch bald ein Teil dieser gruseligen Gemeinschaft sein. Willkommen im Klub!
»Entschuldige! Aber ich habe jetzt wirklich nicht die Kraft, ihnen gegenüberzutreten. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich mich lieber bis zur nächsten Mahlzeit in deinem Zimmer verstecken. Wäre das okay?«
Jessy lächelte. »Klar!« Sie zögerte. »Ich glaube, ich muss mich entschuldigen. Die ersten Tage hier habe ich auch als Horror erlebt.«
»Nur die ersten …?«, fragte ich. Es war nett gemeint, aber es kribbelte mich am ganzen Körper bei dem Gedanken, dass es mir genauso gehen könnte wie Jessy und den anderen. Dass ich den Rest meines Lebens mit der Suche nach Türen verbringen würde, während mein Verstand sich langsam verabschiedete.
Todmüde setzte ich mich auf Jessys Matratze, und obwohl ich voller Unruhe war, musste ich schon nach wenigen Minuten eingeschlafen sein. Wilde Träume begleiteten mich. Schattenwesen mit Fackeln in den schwarzen Händen kreisten mich ein und drängten mich in einen Gang, der vollkommen dunkel war. Ich rannte hinein, rannte, ohne zu wissen, wohin. Meine Verfolger konnteich nur erahnen, denn sie hatten keine Schritte. Aber ihr Licht kam immer näher. Voller Angst lief ich immer schneller, nur die absolute Dunkelheit konnte mir Schutz bieten. Schließlich stand ich vor dem Ende des Gangs, erfühlte eine Tür, eine Klinke und riss sie auf. Weiter kam ich nicht, in hell gleißendem Nebel stand Cyriel. Seine Augen funkelten wütend und in der Hand hielt er etwas hoch, eine Waffe. Ein Messer? Einen Pinsel?
Erschrocken fuhr ich hoch. Ein Traum! Es musste ein Traum sein! Aber warum waren da immer noch Augen dicht vor mir in der Dunkelheit? Und warum war es hier immer noch dunkel? Sollte es nicht Tag sein? Ein kurzer Blick zum Fenster zeigte mir, dass auch hier alles vernagelt war. Ein schmaler Tageslichtstrahl streifte die Person, die vor mir hockte und mich anstarrte. Sie hatte das Gesicht einer Frau Anfang dreißig, aber ihre Augen sahen wegen der dunklen Ringe darunter älter aus.
»Nun bist du also auch hier«, sagte sie leise.
Instinktiv rückte ich von ihr ab, rutschte auf die andere Seite der Matratze, bis mein Rücken die Wand berührte. Die Frau kroch ein Stück näher. Das Licht strich über ihren schlanken Körper. Wie gebannt betrachtete ich ihren braunen Rock und die Römersandalen mit den Nieten. Eindeutig Annas Sandalen!
»Woher haben Sie die Klamotten?«, fragte ich
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