Schattenwesen
machen. Insgeheim bewunderte ich sie.
»Was hat er denn gesagt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nicht viel. Dass ich etwas essen muss. Und mit ihm kommen soll, weil ich in einem Gang war, wo wir nicht hingehen sollen.«
»Kannst du ihn beschreiben? Hat jemand anderes ihn vielleicht gesehen, während du mit ihm gesprochen hast?«
»Einmal war eine Frau dabei. Die hat gemeint, da sei gar nichts. Sie würde sagen, dass ich spinne. Und das andere Mal … Ich spüre es einfach, wenn jemand vor mir steht. Ich würde seine Stimme wiedererkennen.« Sie überlegte eine Weile. »Und seinen Geruch. Er riecht nach Heu.«
Es war ein Gefühl, als würde mein Herz nicht mehr schlagen und das Blut in den Adern erstarren. Heu?
»Cyriel«, hauchte ich und krallte meine Finger in die Matratze.
»Ist das sein Name? Der deines Gastgebers?«, fragte Jessy teilnahmsvoll.
»Nein. Er ist sein Assistent. Und langsam begreife ich einiges …«, sagte ich, obwohl die Lücken in meinem Begreifen noch erheblich waren. Was um Himmels willen war er? Sosehr sich mein Innerstes gegen diese Erkenntnis wehrte, aber es musste so sein: Er war der Schatten! Ein mysteriöses Wesen, das sich hier unten Menschen hielt – wie Mäuse für ein Experiment. Was wollte er von ihnen? Und warum hatte er sich so für das Bild mit dem Schwarz interessiert? Die Erinnerung an den Schatten im Atelier durchzuckte mich und brachte mich auf eine ganz andere Frage, die wie Feuer in meinem Kopf brannte: Hatte er sich womöglich schon viel früher für dieses Schwarz interessiert? Als mein Vater noch damit experimentierte – und schattenhafte Wahnvorstellungen hatte, die ihn schließlich in den Selbstmord trieben?
Kira
Erschrocken fuhr ich zusammen, als ein lauter Gong ertönte. Er vibrierte in dem alten Gemäuer und plötzlich hörte ich ein paar Türen knarren und das Schlurfen von Leuten auf dem Gang.
»Die Fütterung der Verlorenen«, erklärte Jessy mit einem schiefen Lächeln und sprang auf. »Er hat sich heute etwas verspätet, scheint mir. Hast du ihn zufällig so durcheinandergebracht?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Wenn es ruhiger geworden ist, folge mir! Es gibt einen Gang, der zu einer kleineren Treppe hinter der Säulenhalle führt. Wenn alle im Speiseraum sind, kannst du von dort aus ungestört deinen Ausgang suchen.«
»Danke! Das klingt perfekt«, sagte ich.
»Nimmst du mich mit?«
Die Frage hatte ich erwartet, dennoch machte sie mich nervös und ich zögerte.
»Die Gefahr, dass Cyriel dich findet, während ich Hilfe hole, ist einfach zu groß. Vertrau mir! Mein Gastgeber wird wissen, was wir tun können, um Cyriel auf frischer Tat zu ertappen und die Menschen hier zu befreien.«
Ich bemerkte Jessys Enttäuschung, aber ich war heute schon einmal auf der Flucht gewesen. Im Notfall wollte ich so schnell rennen können wie nur möglich.
Kurz darauf tappten wir durch einen Gang, der soschmal und türenlos war, dass wir keine Gelegenheit zur Flucht gehabt hätten, wenn uns jemand entgegengekommen wäre. Aber Jessy beruhigte mich immer wieder und erklärte, dass diesen Weg kaum jemand nahm. Und dass die anderen nicht wirklich böse waren. Ich hingegen war der Meinung, dass ich diesen Verzweifelten nicht so schnell noch einmal begegnen wollte. Der Gang endete an einer kleineren Wendeltreppe und führte uns nach unten, wo wir dicht neben der Folterkammer wieder herauskamen. Bingo! Das war genau der richtige Gang!
Lauschend blieben wir stehen, aber die einzigen Geräusche kamen aus einem Raum auf der anderen Seite der Stallungen, wo es kräftig nach Kaffee und Toast duftete. Möglichst lautlos schlichen wir tiefer in den Gang hinein. Jessy folgte mir und ich wusste nicht so recht, ob sie es aus Neugier tat oder weil sie noch immer hoffte, mit mir durch die Tür gehen zu können.
In den Windungen des Gangs verlor sich das Licht der Fackeln, sodass ich die Taschenlampe wieder einschalten musste. Gut so, denn nur in totaler Dunkelheit würde ich den Ausgang finden!
»Willst du nicht zum Essen gehen?«, fragte ich Jessy vorsichtig, als wir die Tür erreichten.
»Ich wollte sichergehen, dass du klarkommst!«, lächelte sie – und ich fühlte mich ganz mies, weil ich sie zurückließ.
»Keine Sorge, ich komme ganz bestimmt wieder!«, flüsterte ich.
»Das weiß ich«, erwiderte sie. »Nun mach schon!«
Ich schaltete die Taschenlampe aus und tastete die Wand ab. Da war die Tür. Und da die Klinke. Sie ließ sich problemlos herunterdrücken.
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