Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenwesen

Schattenwesen

Titel: Schattenwesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rauchhaus
Vom Netzwerk:
betastete ihr Gesicht. »Wie alt sehe ich denn aus?«
    »Etwas jünger als ich, denke ich. Siebzehn?«
    Jessy nickte und atmete tief durch. »Passt. Aber jetzt lauf endlich, du hast nicht viel Zeit!«
    Ich konnte ihr ansehen, dass sie am liebsten gleich mitgekommen wäre.
    »Ich vergesse dich nicht, versprochen! Ich komme und hole dich!«
    »Uns!«, verbesserte Jessy ernst.
    Anna hatte den Hauptgang genommen, so konnte ich also durch den Seitengang, wie beim letzten Mal, zur Geheimtür gelangen. Als ich die Wendeltreppe erreichte, tappte ich so vorsichtig wie möglich bis zu einer Stufe, von der aus ich den Gang beobachten konnte, ohne aufzufallen. Hoffte ich jedenfalls. Und ebenso hoffte ich, dass Jessy mit ihrer Zeiteinschätzung recht hatte.
    Als mein linker Fuß gerade einzuschlafen drohte, kam er. Beinahe hätte ich ihn verpasst, denn ich hatte auf Schritte gelauscht. Auf Geräusche, die ein Mensch eben machte, wenn er sich bewegte. Aber er war völlig lautlos, als würde ganz unerwartet die Projektion eines Cyriel de Vries im Gang erscheinen. Nur dass eine Projektion immer auch etwas mit Licht zu tun hatte, während dieser Mann dunkler wirkte als seine Umgebung. Dunkler, als Menschen sein können.
    Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass er vorbeiging. Aber genau vor meiner Treppe zögerte er. Hatte er mich bemerkt? Vorsichtig zog ich mich ein Stück zurück, sodass ich ihn nur noch bis zur Hüfte sehen konnte, der obere Teil fehlte mir. Dann hörte ich laute, schnelle Schritte, die eindeutig menschlich waren. Wenn man diese neue Anna als menschlich bezeichnen konnte.
    »Cyriel!«, rief sie und ihre Stimme klang wie eine alt gewordene und verzweifelte Variation der männerbetörenden Neunzehnjährigen, die ich kannte.
    »Anna!«, sagte er überrascht. »Alles in Ordnung?«
    »Alles bestens. Besonders, seit ich eine Freundin hier unten habe.«
    Was bezweckte sie damit? Glaubte sie, dass Cyriel ihr dafür um den Hals fallen würde? Oder stimmte mein erster Eindruck tatsächlich? Dass sie einen Großteil ihres Verstandes hier unten eingebüßt hatte? Was hatte sie nur so verwandelt?
    So leise ich konnte, schlich ich die Treppe wieder hoch. Und dort begann ich zu rennen. Verdammt, wo sollte ich jetzt hin? Wo würde er mich nicht finden? Als ich um die nächste Kurve bog, blieb ich wie erstarrt stehen.
    »Jessy! Wieso bist du nicht beim Essen?«
    »Ich wollte da sein, falls etwas schiefgeht«, flüsterte sie. »Was ist los?«
    »Anna hat mich verraten und Cyriel wird gleich hier sein«, zischte ich und wollte mich an ihr vorbeidrängeln.
    »Diesmal komme ich mit und helfe dir!«, zischte sie zurück und schob mich in den Gang, der zur großen Wendeltreppe führte. »In den oberen Räumen wird er zuerst suchen, also erst mal runter!«
    »Geh in dein Zimmer, er sucht ja nur mich«, riet ich ihr und wollte loslaufen, aber Jessy blieb dicht hinter mir.
    »Vergiss es! Und jetzt los! Nimm keine Rücksicht auf mich, ich kenn mich hier aus!«
    Tatsächlich war sie unglaublich schnell. Als ich begriff, dass sie auf meine Schritte lauschte, gab ich flüsternd Anweisungen: »Links. Rechts. Vorsicht, Stufen!«
    In Windeseile hatten wir die untere Halle erreicht.
    »Und jetzt?«, keuchte ich, bereit zum Sprung, falls jemand um die nächste Ecke biegen würde.
    »Jetzt gehen wir in den Speisesaal zu den anderen«, flüsterte Jessy und wollte mich am Arm ziehen. Aber ich blieb stocksteif stehen.
    »Zu den …?«
    »… Zombies, ja!«, vervollständigte Jessy den Satz und nickte lächelnd. »Da wird dieser Cyriel dich am wenigsten erwarten.«
    »Du verstehst nicht …« Wie sollte ich ihr nur erklären, dass diese Leute mich das letzte Mal bedroht und verfolgt hatten? Ich würde beim Essen mit Sicherheit der Hauptgang sein!
    Aber Jessy legte mir eine Hand auf die Schulter und lenkte mich. Und irgendwie strahlte ihre Hand etwas sehr Beruhigendes aus.
    »Sie sind nicht anders als wir. Jeden Tag aufs Neue hoffen und verzweifeln sie. Sie konnten nicht wissen, wer du bist und was du bist, also warst du eine Bedrohung. Gib ihnen eine Chance!«
    Bevor ich ein gutes Argument dagegen finden konnte, stand ich schon in der Tür zum Speisesaal. Etwa zwanzig Menschen starrten mich an, manche von ihnen erstaunt, manche gleichgültig, manche aggressiv. Der Mann mit dem braun-grau gefleckten Bart stand auf und funkelte uns an, und ich wollte gerade die Flucht ergreifen, als Jessy sich vor mich stellte und sagte: »Das hier ist Kira. Ich

Weitere Kostenlose Bücher