Schattenwesen
habe gehört, bei ihrer Ankunft gab es wohl ein Missverständnis. Sie ist eine von uns und sie will uns helfen, sobald sie den Ausgang wiedergefunden hat. Aber das Schattenwesen ist hinter ihr her, und wenn es sie erwischt, dann war’s das – auch für uns. Mit ihr haben wir alle eine neue Chance. Bitte! Ihr müsst uns helfen!«
In ihren Gesichtern spiegelte sich noch immer Unsicherheit, wie sie mit mir umgehen sollten.
»Aber ihr Schatten …«, sagte eine Frau vorwurfsvoll.
Jessy nickte. »Sie hat mehr Glück gehabt als wir. Bis jetzt. Wollt ihr ihr das übel nehmen?«
Die Frau musterte mich. Schließlich stand sie entschlossen auf, rückte ihren Stuhl zurück und zeigte unter den Tisch. »Hock dich zwischen unsere Füße. Es wird eng, aber zwischen so vielen Beinen wird er dich nicht finden.«
Eine andere alte Frau gab ein meckerndes Lachen von sich, von den anderen nickten einige.
Da mir nichts Besseres einfiel als dieser Vorschlag, nickte ich freundlich in die Runde und krabbelte unter den Tisch. Stühle rückten, die Beine wurden eng zusammengestellt und ich kauerte mich dazwischen.
Lange Zeit verging. Offenbar hatte ich Cyriels Essenszeiten tatsächlich durcheinandergebracht. Während die Leute geduldig sitzen blieben und sich murmelnd unterhielten, betrachtete ich die Schuhe um mich herum. Seltsam, wenn man mal davon ausging, dass die Menschen hier schon lange unter einfachen Bedingungen lebten, dann müssten ihre Schuhe doch sehr alt, abgewetzt und schmutzig aussehen. Und vermutlich auch unangenehm riechen. Aber nichts davon war der Fall. Doch etwas war noch merkwürdiger: Das waren nicht die Schuhe alter Leute! Die meisten trugen bunte Turnschuhe oder peppige Ballerinas. Jessy hatte gesagt, sie alle hielten sich für jung. Die neunzehnjährige Anna war erst ein paar Tage hier und wirkte jetzt schon rund zehn Jahre älter. Mir wurde fast schwindelig bei dem Gedanken, was das bedeutete: Diese Menschen waren jung! Waren sie etwa die verschwundenen Jugendlichen?
Plötzlich verstummten alle Gespräche. Die unerwartete Stille ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Eine Fußspitze trat in meine Nieren und beinahe hätte ich laut aufgeschrien. Gerade noch rechtzeitig wurde mir bewusst, dass die Frau mich vermutlich nur warnen wollte. Selbst ohne den Tritt hätte ich die knisternde Spannung im Saal bis unter den Tisch gespürt. Jemand hatte den Raum betreten – jemand, den sie fürchteten.
Der Essenswagen rollte langsam, aber unaufhaltsam näher, stoppte an jedem Platz. Dann ertönte jeweils ein Klappern und ein dumpfer Ton: Wasserglas auf Holz. Näher und näher. Schließlich konnte ich Beine sehen, Cyriels Jeans. Und als ich seine Schuhe näher betrachtete, setzte mein Herz für ein paar Schläge aus. Ich sah, wie er sie vorwärtssetzte – ohne den leisesten Ton, wie Jessy es ja gleich festgestellt hatte. Aber von hier unten konnte ich auch erkennen, warum sie kein Geräusch machten: Ihre Sohle verschwamm vor meinen Augen, sie waberte wie dunkler Rauch und sie berührte niemals wirklich den Boden.
Ein fast tonloses Keuchen rutschte mir heraus, als ich Luft holen musste. Urplötzlich blieben Cyriels Beine stehen und ich fühlte, dass alle den Atem anhielten. Eine Stille, als hätte selbst die Zeit angehalten. Bis die Frau vor mir ein Husten von sich gab, das meinem Keuchen sehr ähnlich war.
»Ein Wasser bitte!« Ihre Stimme klang gequetscht, als bekäme sie kaum Luft.
In der Totenstille hörte ich sie trinken. Und das Glas wieder absetzen.
»Danke«, sagte sie leise.
An der Haltung seiner Beine konnte ich sehen, dassCyriel zögerte. Als er endlich weiterging, konnte auch ich mich wieder entspannen – soweit das unter dem Tisch möglich war.
Da die anderen nie mit Cyriel sprachen, war ich mir sicher, dass das Ablenkungsmanöver die Frau viel Mut gekostet haben musste. Und ich hatte diese Menschen vorhin noch als Zombies bezeichnet! Ich beschloss, das nächste Mal besser über solche geringschätzigen Bemerkungen nachzudenken, bevor ich den Mund aufmachte.
Als Cyriel den Raum verlassen hatte, bedankte ich mich überschwänglich bei der Frau und nickte allen dankbar zu. Sie hatten eine Menge für mich riskiert. Die meisten von ihnen verschwanden jedoch recht schnell. Bis auf meinen persönlichen Freund, den bärtigen Mann.
»Und jetzt zeigst du uns den Ausgang!«, sagte er, als wir durch die Tür gehen wollten, und blieb mit verschränkten Armen vor mir stehen.
»Ich habe gesagt, wenn wir
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