Schattenwesen
befreien könnte. Dass sie mit ihrem Bild von hier fliehen könnten. Aber dich habe ich gemalt … weil ich befürchtet habe, deinen Anblick in den nächsten hundert oder zweihundert Jahren vielleicht zu vergessen.«
Mein Herz machte zwei Hüpfer – einen vor Freude und einen vor Grauen.
»So schnell vergisst du?«, fragte ich schmunzelnd. Hoffentlich konnte er nicht sehen, was seine Worte in mir ausgelöst hatten. Wie gut ich verstehen konnte, dass man sich in den Anblick eines anderen Menschen verliebte! Nicht weil er so attraktiv war – obwohl ich das in diesem Fall nicht bestreiten würde –, sondern weil er ein Feuerwerk in mir entzündete, wenn er mich ansah. Weil ich das Gefühl hatte, dass wir gegenseitig in uns hineinsehen konnten. Warum hatte ich ihn anfangs nicht leiden können? Oder war in diesen ersten Tagen das Feuerwerk einfach zwischen uns gewesen, hatte der ewige Streit uns den Blick vernebelt? Jetzt war es jedenfalls, als wäre Cyriel mein Gegenstück – wie Mensch und Schatten.
»Warum malst du nicht einfach in Schwarz-Weiß?«, musste ich einfach fragen. »Du kannst die Farben doch nicht sehen, oder?«
»Nicht so wie du«, gab er zu. »Aber Farbe sieht immerlebendiger aus, auch wenn ich sie inzwischen anders benutze. Ich konnte ja nicht ahnen, dass je ein Mensch die Bilder ansehen würde.« Er lächelte. »Ein ziemlich kritischer Mensch noch dazu. Stell dir einfach vor, du würdest dieses Porträt in einem Schwarz-Weiß-Fernseher sehen. So ungefähr sehe ich Farben. Zwischen Schwarz und Weiß gibt es eine unglaubliche Palette von Grautönen.«
»Schwarz ist alle Farben, hast du zu mir gesagt. Alle Möglichkeiten, der Weg in die Unendlichkeit.« Ich wandte mich ab und lehnte mich gegen eine Wand.
Wenn ich denken wollte, musste ich Abstand zu Cyriel gewinnen. Ihn zu spüren machte mich unruhig. »Sag mir bitte, was du damit gemeint hast. Und ob uns das irgendetwas nützt – gegen Ruben Nachtmann.«
Er folgte mir und setzte sich auf einen Hocker in meiner Nähe.
»In der absoluten Dunkelheit liegt eine Art Portal. Nennen wir es eine Wegkreuzung. Und du kannst jeden Weg gehen, in jede andere Realität, die du dir vorstellen kannst.«
»Du meinst, diese Türen, durch die ich gegangen bin, führen in eine andere Welt? Und … ich könnte in der Nacht immer und überall in andere Welten gehen?«
Cyriel legte den Kopf schief. »Ja und nein. Ruben hat das Geheimnis der Dunkelheit vor einer Ewigkeit entdeckt, aber ganz so einfach war es wohl nicht. Er hatte das perfekte Schwarz ja noch nicht und es gibt in den modernen Städten keine echte Dunkelheit mehr. Ruben musste während einer Mondfinsternis Türen anlegen, die man später in dunklen Nächten immer wieder benutzen konnte. Mit welchen alchemistischen Mitteln er das tat,kann ich nicht sagen. Diese Türen führen nicht in alle Welten, sondern nur in eine: in die Burg vor ihrer Zerstörung. Hier ist es, als hätten die Dörfler die Burg niemals niedergebrannt.«
Ich konnte es kaum glauben! Und andererseits …
»Jetzt weiß ich, warum ich in der Dunkelheit schon immer das Gefühl hatte, dass etwas Fremdes anwesend ist«, murmelte ich.
Er nickte. »Die Angst aller kleinen Kinder! Sie haben das feinere Gespür – für echte Gefahren.«
»Und was ist nun mit dem absoluten Schwarz?«
Cyriel atmete laut hörbar ein. »Ruben versucht seit einigen Jahrhunderten es zu finden, aber bisher erfolglos. Wenn er die Erfindung deines Vaters in die Finger bekäme, könnte er jederzeit und überall in andere Welten wandern. Und er bräuchte die Menschen nicht mehr, um Lebenskraft zu sammeln.«
»Das wäre doch gut … er würde verschwinden und niemanden mehr entführen, oder?«, fragte ich nachdenklich.
Cyriels Blick war ernst. »Er hasst die Menschen, seit sie mit Fackeln gegen ihn in den Kampf gezogen sind. Sein Traum ist ein Schattenreich. Mit ihm als ›Vater‹ aller Schatten – ohne Menschen.«
Mir wurde kalt. »Wie will er das anstellen?«
»Mit dem tiefsten Schwarz kann er sich zwischen den Zeiten bewegen und alles vernichten, was ihm nicht gefällt. Er hätte unvorstellbare Macht.«
Ich schwieg, unter meiner Haut wurde es immer kälter.
»Er hat meinen Vater zwingen wollen, ihm die Formel zu geben, nicht wahr?«
Cyriel nickte kaum merklich. »Dein Vater erkannte,wie gefährlich diese Erfindung war, und hat sich geweigert. Er drohte Ruben damit, dass er springen würde und dass dann niemand die Formel bekäme. Ruben hat ihm nicht
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