Schattenwesen
Matratze ein. Er musste jetzt nicht sehen, dass ich mit den Tränen kämpfte. Er selbst suchte sich eine dunkle Ecke und verschwand in den natürlichen Schatten der Wand. Ob das der übliche Ort war, an dem Schattenwesen schliefen?
Es fiel mir schwer, meinen zufallenden Augen nichteinfach nachzugeben. Ich musste wach bleiben! Nach einer Weile stand ich langsam auf und flüsterte: »Bist du noch da?«
Keine Antwort. Zeit, zu sehen, ob meine Idee funktionierte.
Die Staffelei klapperte etwas, als ich sie ins Licht der Fackeln hob. Etwas leiser gelang mir das Aufstellen einer neuen Leinwand. Der Kohlestift lag wie ein Stein in meiner Hand. Ich hätte anfangen können. Wenn nicht mein Herz so schnell geschlagen und meine innere Stimme immer wieder geflüstert hätte, dass ich vielleicht Erfahrung mit dem Restaurieren hatte – aber dass ich keine Malerin war!
Trotzdem, mein Vater hatte mir so viel beigebracht und ich hatte schon so viele Bilder angefangen, immer unter der heftigen Kritik, dass ich die Technik zwar nach Lehrbuch beherrschte – aber kein Gefühl auf das Papier bringen konnte.
Nun, Gefühl hatte ich heute genug in mir. So viel, dass ich platzen würde, wenn ich es nicht aufs Papier brachte. Dieses Bild musste fertig werden.
Kira
Irgendwann gelang es mir, den Verstand auszuschalten, sodass meine Hand nur durch Intuition geführt wurde. Sie huschte über die Leinwand und meine Umgebung verschwamm. Es war, als hätten Zeit und Raum ihre Bedeutung verloren, und als ich begann, meine Kohlezeichnung mit Farbe zu füllen, hatte ich längst vergessen, wo ich malte und warum ich malte.
Ohne Zeitgefühl trat ich einen Schritt zurück, als ich erstaunt feststellte, dass das Bild fertig war. Ich legte den Kopf schief, um zu sehen, ob das Porträt lebendig genug wäre. Im gleichen Moment sah ich etwas Dunkles über meiner Schulter. Etwas streckte sich in Richtung Leinwand und nahm gleichzeitig Farbe an. Eine Hand lag plötzlich auf meiner Schulter, und als ich mich umwandte, stand Cyriel so nah und lebendig vor mir, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ich spürte seinen schnellen Atem auf meiner Haut, und seine Augen blitzten unter den dunklen Strähnen, die in sein Gesicht fielen. Zunächst betrachteten sie noch das Bild – als würde Cyriel sich selbst zum ersten Mal sehen. Dann traf sein Blick mich, als wolle er in mir lesen, was ich dachte. Seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Hatte er eine Antwort auf seine Frage bekommen? Langsam zog er mich an sich und küsste mich. Nicht wie ein Schatten, sondern wie ein sehr lebendiger Mann. Und auch wenn es verrückt war, legteich vorsichtig die Hände auf seine Schultern und erwiderte den Kuss. Wie hätte ich etwas anderes tun können, wenn meine Haut unter seiner so kribbelte?
»Ich wusste nicht, dass du das kannst«, murmelte er.
»Was? Küssen?«, fragte ich.
Er lachte und schob mich gerade so weit zurück, dass er mich ansehen konnte. »Malen! Du unmögliches Weib!«
Ich seufzte und lehnte mich an ihn. »Das wusste ich auch nicht. Deshalb habe ich gewartet, bis du schläfst.«
»Aha! Und wenn ich ausgesehen hätte wie ein schielender Schweinehirt, hättest du die Leinwand hoffentlich vernichtet?«
»So ungefähr …«
Als er mich noch einmal küssen wollte, schob ich ihn zurück und betrachtete ihn genau.
»Und? Sehe ich aus wie vorher?«, fragte er.
»Ich denke, ja«, sagte ich zögernd. »Wie gut, dass ich dich mit einem Lächeln gemalt habe und nicht so miesepetrig wie auf dem Fresko.«
Er verzog das Gesicht zu einer düsteren Grimasse. »Du hast mich gemalt – aber was ich mit diesem Körper tue oder lasse, ist meine Entscheidung.« Der Druck seiner Arme auf meinem Rücken wurde stärker, als er mich noch einmal an sich zog. »Ich bin derselbe wie vorher. Dass ich dich geküsst habe … Ich wollte das schon lange tun. Aber ich war mir sicher, dass du mich hasst.«
»Und was hat deine Meinung geändert?«, fragte ich und hob herausfordernd das Kinn.
Er drehte mich so, dass wir beide das Porträt ansehen konnten. »Wer so malt, empfindet keinen Hass.«
»Wie du, als du dieses Porträt von mir gemalt hast?« Ichmusterte ihn, als sein Blick auf das Bild fiel, das ich auf den Boden gestellt hatte.
»Es tut mir leid, wenn es dich beleidigt hat. Aber ich musste dich einfach malen.«
»Warum?«
Seine Finger bohrten sich etwas fester in meine Schulter. »Die anderen habe ich porträtiert, weil ich dachte, dass ich sie damit von Rubens Herrschaft
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