Schattenwesen
Aber er zog sie zurück.
»Was ist los?«
Er blickte unbeteiligt in Richtung Staffelei, aber ich sah, wie die Ader an seinem Hals klopfte.
»Wenn das hier das richtige Schwarz ist … musst du gehen. Ich muss Ruben allein gegenübertreten.«
Ich zuckte zusammen. »Warum sollte ich ausgerechnet jetzt gehen? Das ist doch nicht allein dein Problem – nur weil er deinen Schatten vierhundert Jahre vor meinem abgeschnitten hat.«
Er wandte langsam den Kopf zu mir und ich erschrak über den Ernst in seinen Augen. »Nein, aber du hast noch ein Leben. Wenn meine Theorie stimmt, dann ist dieses neue Schwarz dunkel genug, um deinen Körper und deinen Schatten wieder zusammenzufügen. Du darfst dieses Leben nicht …«
Cyriel verstummte, drückte sich schwungvoll von der Wand ab und trat einen Schritt vor. Was ich mit meinem Leben nicht tun durfte, erfuhr ich nicht mehr, denn er starrte angestrengt auf die Leinwand.
»Das ist … unglaublich!«, flüsterte er.
Ich war seinem Blick gefolgt – und bekam umgehend Kopfschmerzen. Der dunkle Fleck war kein Schwarz, wie ich es kannte. Ich war blind! Solange ich auf diese Stelle sah jedenfalls. Es war wie ein Loch in der Wirklichkeit.
»Das muss es sein!«, flüsterte ich zurück.
Wortlos ging er zur Matratze auf der anderen Seite des Raums und holte das Glas mit meinem Schatten. Nachdem ich nun wusste, was er vorhatte, versagte mir fast der Atem. Einerseits hatte ich panische Angst, dass es nicht funktionieren würde. Und andererseits graute mir davor, dass es funktionieren könnte.
Cyriel öffnete das Glas und das Dunkle darin erhob sich wie eine Kobra aus ihrem Korb. Plötzlich wischte es mit unerwarteter Geschwindigkeit durch den Raum, wirbelte einige Male um mich herum und blieb dann schwebend in der Luft über mir stehen.
»Er hat dich erkannt«, flüsterte Cyriel. »Beweg dich nicht.«
Er nahm den Pinsel wieder in die Hand, tunkte ihn in das Schwarz und kam auf uns zu.
»Jetzt hock dich auf den Boden.«
Ich tat es und der Schatten tat es mir nach. Kaum hatte er den Boden neben mir berührt, streckte Cyriel den Pinsel aus und zog einen Strich zwischen uns. Wie gebannt sah ich zu und auch der Schatten schien zu spüren, dass etwas mit ihm geschehen sollte. Doch nach einigen Sekunden, in denen absolute Stille herrschte, erhob sich mein Schatten und wirbelte wieder durch die Luft.
Ich stand auf und fluchte.
»Was ist falsch gelaufen?«, fragte ich. »Sollen wir es noch mal versuchen?«
Cyriel feuerte den Pinsel auf einen Tisch, sodass das Schwarz quer darüberspritzte. »Nein!« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ich habe es geahnt!«
Fragend sah ich ihn an. »Ist es doch nicht die richtige Farbe?«
Er schüttelte den Kopf, zu wütend, um reden zu können. Stattdessen nahm er das Glas und versuchte den Schatten wieder einzufangen. Dabei fuhr sein rechter Arm spiralförmig um den Schatten herum, während er seine Finger kreuzte. Irgendwann sammelte sich das dunkle Wesen und fuhr über die Fingerspitzen an Cyriels Arm entlang in seinen Ärmel. Cyriel legte seine Hand schnell in das Glas und schob den Schatten mit der anderen Hand zurück, sodass er an seinem Arm entlang wieder in sein Gefängnis kroch. Als die letzten dunklen Schwaden hineingewischt waren, verschloss er den Deckel. Und mirwar zumute, als wäre meine letzte Hoffnung gerade in diesem Behälter verschwunden.
»Das war’s also?«, fragte ich frustriert.
Cyriel zog mich an sich. Ich spürte sein Kinn auf meinem Kopf, aber ich spürte auch seine Unruhe.
»Es gibt noch einen Weg«, sagte er leise.
»Noch eine Theorie?«
Er zuckte zusammen, dann ließ er mich los. »Ich werde nicht zulassen, dass Ruben dir alles nimmt.«
»Und was willst du tun?«
Sein bestimmter Ton machte mich nervös. Er klang, als hätte er einen Punkt erreicht, an dem er alle Vernunft über Bord werfen wollte.
»Das Messer! Ich hatte es schon vermutet, aber wir brauchen das dunkle Messer, das Ruben entwickelt hat, um Schatten abzuschneiden.«
»Das klingt ein bisschen wie im Märchen«, sagte ich und hoffte, dass mein Lächeln ihn wieder aus seiner seltsamen Stimmung zurückholen könnte. »Magie kann nur der rückgängig machen, der sie bewirkt hat.«
»Die Alchemie, wie Ruben sie anwendet, hat durchaus viel mit Magie zu tun«, nickte er. »Aber sie ist nicht personenbezogen. Der Gegenstand ist magisch. Ein Messer, das die Dunkelheit schneiden kann.«
»Ein Messer, das er jetzt bei sich trägt«, gab ich zu
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