Schattenwesen
gehört hatte. Keine Schritte, keinen Atem …
»Wer bist du?«, fragte Jessy und sie verfluchte sich selbst für das Zittern in ihrer Stimme.
»Nicht der, der euch helfen will«, erwiderte der Schattenmann. Und plötzlich kicherte er. »Der wird niemandem mehr helfen! Ich bin Gabriel.«
»Und was willst du von mir?«, fragte Jessy.
»Dich beschützen!« Die Stimme klang verwundert. »Was willst du denn da draußen in den Ruinen? Du würdest keine drei Schritte weit kommen, sondern in ein tiefes Loch fallen und dir alle Knochen brechen. Das kann ich doch nicht zulassen …«
Jessy krallte ihre Finger hinter sich in die Mauer. »Bist du deshalb nie durch diese Tür gegangen und geflohen? Weil du fallen könntest?«
»Warum sollte ich fallen? Ich bin ja nicht blind«, knurrte Gabriel.
»Ach, du bist nicht blind?«, zischte Jessy. »Warum erkennst du dann nicht, dass dein Herr, dieser Ruben Nachtmann, dir das Schlimmste angetan hat, was man einem Menschen antun kann?«
Er schwieg eine Weile und Jessy fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Aber gleich darauf ertönte seine Stimme ein Stück entfernt, als hätte er nachdenken müssen.
»Ja, das hat er allerdings. Aber niemand kann es rückgängig machen. Wäre ich ein Mensch, würde ich so denken wie du. Doch wir sind zu Höherem fähig als ihr. Und bald werde ich sehr viel Macht …«
In diesem Moment rannte Jessy so schnell, wie sie noch nie gerannt war. Die letzten Sekunden hatte sie genutzt, um den Weg genau abzuschätzen. Das Echo der Stimmen, die Wände an den Seiten. Sie mussten ihr genügend Hinweise geben, umzumindest ein gutes Stück zu schaffen. Gleichzeitig begann Jessy so laut wie möglich zu schreien.
»Hilfe! Hierher!«
Die Panik ließ sie alles auf eine Karte setzen – aber war es die richtige? Konnten die anderen ihr überhaupt helfen? Was konnten sie gegen ein Schattenwesen ausrichten? Sie erinnerte sich deutlich: Paul hatte nach dem Kampf mit Cyriel große Schmerzen gehabt und Lara hatte erwähnt, dass er an der Stirn geblutet hatte. So viel zur Theorie, dass dieses Ding »nur« ein Schatten war!
Dann hörte sie Stimmen. Dicht vor sich und sehr viele.
»Was ist passiert?«, fragte Lara.
Als alle mit einem Schlag verstummten, wusste Jessy, dass sie das Schattenwesen gesehen hatten. Was konnten sie tun? Wenn Gabriel jetzt entkam, wäre Cyriel nicht mehr in der Lage, sie zu retten, das war ihr klar – und sie vermutete, auch allen anderen.
»Schafe!«, murmelte sie plötzlich. Vielleicht war die Idee verrückt, aber es war eine Idee! »Habt ihr schon mal gesehen, wie ein Hund viele Schafe vorwärtstreibt? Habt ihr euch nie gefragt, was passieren würde, wenn die Schafe den Hund treiben würden?«
Ein Raunen ging durch die Menge, die meisten hatten es wohl verstanden. Sie hörte Gabriel fluchen, als sie spürte, wie die Menge ihn einkreiste.
»Vorne verstärken!«, brüllte Lara mit fester Stimme.
»Er kommt auf mich zu!«, rief eine dünne Frauenstimme und gleich darauf ertönte ihr Schmerzensschrei.
»Hast du das gesehen?«, flüsterte ein Mann. »Wenn wir dieHände heben wie zu einem Käfig, dann kann er nicht an uns vorbei!«
»Lasst ihn nicht entwischen!«, zischte eine Frau.
Eine Weile hörte Jessy nur noch kurze Aufschreie und kurze Befehle, die hin und her gingen. Manche der Schattenlosen wurden anscheinend kräftig attackiert und verletzt. Aber sie hielten zusammen wie eine Wand.
Jessy versuchte sich an ihnen vorbeizudrängeln. Als sie den Schattenraum ertastet hatte, öffnete sie die Tür.
»Hier rein! Hier wird er eine Weile sicher sein!«
»Hey!«, schrie Gabriel, als sie ihn mit Wucht durch die Öffnung drückten. Dann wurde seine Stimme auf einmal sanft. »In diesem Raum sind alle eure Schatten. Wusstet ihr das? Hat die kleine Blinde euch das eigentlich erzählt?«
Jessy keuchte auf. »Wer mit reingeht, wird mit ihm drinbleiben. Haltet noch ganz kurze Zeit durch … Heute werden wir gerettet.«
Sie spürte das Zögern und dass alle sie anstarrten. Bis auf ein paar, die sich zur Tür drängelten.
»Ich schwöre euch«, sagte Jessy und berührte die Schulter des vordersten Dränglers, »dass ihr heute nach Hause könnt. Aber wenn ihr dieses Schattenwesen entkommen lasst, bleiben wir alle unser kurzes Leben lang hier.«
Die Luft schien zu vibrieren und Jessy hörte einen scharfen Wind – als wollte Gabriel über ihre Köpfe hinweg fliehen. Doch kurz bevor der Wind die Tür erreichte, knallte die Steintür mit
Weitere Kostenlose Bücher