Schattenwesen
die Zimmer und die Gänge in den oberen Stockwerken. Jessy, du übernimmst die Halle und den Speisesaal. Und ich nehme die Gänge unten.«
Anna nickte und lief eilig voraus. Dabei wirkte sie beinahe wieder jung. Ich nutzte die Gelegenheit und wandte mich an Jessy.
» Du musst mit den Leuten reden«, flüsterte ich ihr zu. »Du bist mein Schlüssel zu ihnen, du hast irgendwie den richtigen Draht zu allen.«
Sie lächelte. »Danke. Aber ich habe immer nur ganz normal mit ihnen gesprochen.«
»Genau!«, nickte ich. »Deshalb ja!« Ich nahm ihre Hand und drückte sie. »Wenn ich blind in einem Labyrinth stünde, würde ich mir wünschen, dass du bei mir bist. Weil ich weiß, du würdest mich sicher zum Ausgang führen.«
Da sie rot anlief, verschwand ich schnell genug, damit sie meinen konnte, ich hätte nichts bemerkt.
Die Wege im Keller waren endlos und so kurvig, dass ich irgendwann die Orientierung verlor. Und es gab keine Verbindungen zwischen den Gängen. Konnte ich es riskieren, laut zu rufen? Vermutlich nicht.
Als ich schließlich vor einer Wand stand, an der der Gang endete, drehte ich frustriert um. An der nächsten Gabelung würde ich es links versuchen. Vielleicht fand ich noch ein paar Menschen auf der Suche nach der verlockenden Tür nach draußen.
Auf dem Rückweg waren ein paar Fackeln ausgegangen. Ungewöhnlich! Ob es hier einen Luftzug gab? Oder war mir wieder der charmante Paul auf den Fersen? Als ich um die letzte Kurve bog, war vor mir aber keine Gabelung zu sehen. Diesmal bestand die Wand nicht aus Stein, sondern aus Schatten. Aus mehreren, ineinanderwogenden Schatten, die mir eindeutig den Weg versperrten.
Jessy
Lara hakte sich unter und fragte immer wieder, ob das auch wirklich kein Scherz sei. Jessy empfand ihre Nähe trotz ihrer Anhänglichkeit als sehr hilfreich, denn so konnte sie schneller gehen. In dem laut schwatzenden Pulk von Leuten war ihre Orientierungsfähigkeit auf null gesunken.
Die meisten von ihnen hatte sie im Speisesaal gefunden, und als die Schattenlosen begriffen hatten, dass sich nach langer Zeit endlich eine echte Fluchtmöglichkeit ergab, waren sie Jessy alle gefolgt. Gut, ein paar von den ganz Verwirrten folgten vermutlich nur der Herde, aber Jessys beruhigende Stimme hatte sie alle überzeugt und Jessy war zufrieden, dass es so gut klappte.
Als sie vor dem Schattenraum zum Stehen kamen, wurde es plötzlich still. Bis jemand fragte: »Und was jetzt?«
Jessy wandte sich um. »Jetzt müssen wir warten.«
Gleichzeitig kam es ihr selbst wenig zufriedenstellend vor. Sie hätte gern etwas getan, und ihre innere Stimme sagte ihr, dass es auch etwas gab, was sie tun konnte . Kiras Kompliment ging ihr nicht aus dem Kopf. Wenn ich blind in einem Labyrinth stünde, würde ich mir wünschen, dass du bei mir bist. Weil ich weiß, du würdest mich sicher zum Ausgang führen. Jessys Gesicht begann zu leuchten. Natürlich!
»Der Ausgang soll hier ganz in der Nähe sein. Möchtet ihr mir helfen, ihn zu suchen?«
»Dann verpassen wir garantiert den Schattenmann!«, brummte Paul.
»Nein. Nicht wenn wir darauf achten, dass wir uns schnell verständigen können. Ich schlage vor, wir bilden eine Kette. Kira sagt, dass wir die Tür nur im Stockdunkeln finden können. Deshalb hatte bisher niemand Erfolg. Also löscht alle Fackeln, wenn ihr sucht. Fangen wir mit dem Gang hier an.«
Jessy spürte die Unsicherheit der Leute. Nicht alle hatten verstanden, was sie von ihnen wollte. Deshalb nahm sie etwa alle fünf Meter jemanden bei der Schulter und deutete auf die Wand – in der Hoffnung, dass dies tatsächlich die Außenwand war. Immerhin, alle blieben an dem ihnen zugewiesenen Platz stehen und einige riefen sich gegenseitig zu, dass die letzten Fackeln endlich gelöscht werden sollten.
Sie selbst war die Letzte und sie ging noch ein Stück weiter in den Gang hinein. Wie tief mochte er sein? Wenn sie die Leute richtig einteilen wollte, musste sie es herausfinden! Langsam tastete sie sich mit ihrem Langstock weiter und weiter. Irgendwann erreichte sie die letzte Wand. Der Gang war eine Sackgasse! Jessy lehnte sich gegen die Mauer. Hatte sie sich jetzt zu weit hineingewagt? Würde sie die anderen überhaupt noch hören können, wenn sie nach ihr riefen? Ihre Finger fuhren immer schneller über die Fugen und den Stein. Da! Ein Spalt!
»Und dann? Was willst du auf der anderen Seite?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
Jessy fuhr herum. Sie war absolut sicher, dass sie niemanden
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