Schau Dich Nicht Um
fragte, ob ich nach Hause kommen soll, aber das wollte sie nicht. Sie käme schon zurecht, sagte sie, sie müßte sowieso weggehen. Und das war das letzte Mal, daß ich mit ihr gesprochen habe.« Maureens Gesicht drohte zu zerfließen, Augen, Nase und Mund verzogen sich in verschiedene Richtungen, als sie schließlich in Tränen ausbrach.
Jess, die irgendwann während Maureens Vorwürfen aufgesprungen war, sank wieder auf ihren Stuhl. Sie hörte streitende Stimmen, blickte sich um, sah nicht das Eßzimmer ihrer Schwester, sondern die Küche in ihrem Elternhaus in der Burling Street, sah nicht das Gesicht ihrer Schwester, sondern das ihrer Mutter.
»Du hast dich ja so fein gemacht«, bemerkte Jess, als sie in die Küche kam und das frische weiße Leinenkleid ihrer Mutter sah. »Wohin gehst du?«
»Nirgendwohin.«
»Warum machst du dich so fein, wenn du nirgendwohin gehst?«
»Ich hatte einfach Lust, etwas Hübsches anzuziehen«, antwortete ihre Mutter und fügte dann beiläufig hinzu: »Außerdem hab ich heute nachmittag einen Termin beim Arzt. Was hast du vor?«
»Wieso hast du einen Termin beim Arzt?«
»Ach, nur so.«
»Aber Mama, du weißt doch, ich seh es dir immer an, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst.«
»Genau das ist einer der Gründe, warum du eine großartige Rechtsanwältin werden wirst.«
»Das Recht hat mit der Wahrheit nichts zu tun«, sagte Jess.
»Das könnte Don gesagt haben.«
Jess spürte, wie ihre Schultern sich verkrampften. »Willst du jetzt wieder anfangen?«
»Aber nein, Jess, ich will gar nichts anfangen. Es war nur eine Feststellung.«
»Auf solche Feststellungen kann ich verzichten.«
Laura Koster zuckte die Achseln, sagte nichts.
»Also, was ist das für ein Arzttermin?«
»Ich möchte lieber nicht darüber sprechen, solange ich nicht sicher
bin, daß wirklich Grund zur Sorge besteht.«
»Du sorgst dich doch jetzt schon. Das sehe ich dir an. Sag mir doch, was es ist.«
»Ich hab einen kleinen Knoten entdeckt.«
»Einen Knoten?« Jess hielt den Atem an.
»Ich möchte nicht, daß du dich beunruhigst. Es ist wahrscheinlich gar nichts. Die meisten Knoten sind harmlos.«
»Und wo ist dieser Knoten?«
»In meiner linken Brust.«
»O Gott!«
»Mach dir keine Sorgen.«
»Wann hast du ihn entdeckt?«
»Heute morgen beim Duschen. Ich hab gleich den Arzt angerufen, und er ist sicher, daß es nichts ist. Aber er möchte es sich auf jeden Fall einmal ansehen.«
»Und was, wenn es doch etwas ist?«
»Damit befasse ich mich, wenn es soweit ist.«
»Hast du Angst?«
Ihre Mutter antwortete mehrere Sekunden lang nicht. Nur ihre Augen bewegten sich.
»Sag mir die Wahrheit, Mama.«
»Ja, ich habe Angst.«
»Soll ich mit dir zum Arzt gehen?«
»Ja«, antwortete ihre Mutter sofort. »Ja, das wäre schön.«
Und dann war das Gespräch irgendwie entgleist, erinnerte sich Jess jetzt, während sie ihre Mutter in der Küche stehen sah, wie sie frischen Kaffee machte und Jess eines von den Blaubeertörtchen anbot, die sie am Morgen in der Bäckerei gekauft hatte.
»Aber ich habe den Termin erst um vier Uhr«, sagte ihre Mutter. »Hattest du da schon etwas vor?«
»Ja, aber das macht nichts«, sagte Jess. »Ich rufe Don einfach an und sage ihm, daß unsere Pläne eben warten müssen.«
»Ach, das wäre wirklich gut«, sagte ihre Mutter, und Jess begriff sofort, daß ihre Mutter nicht bloß von den Plänen sprach, die sie für den Nachmittag gemacht hatten.
»Was hast du eigentlich gegen Don, Mama?« fragte sie.
»Ich habe gar nichts gegen ihn.«
»Warum bist du dann so gegen die Heirat?«
»Ich sage ja nicht, daß du den Mann nicht heiraten sollst, Jess«, erklärte ihre Mutter. »Mir gefällt Don sehr gut. Er ist klug. Er ist aufmerksam. Es ist offensichtlich, daß er dich anbetet.«
»Wo liegt dann das Problem?« fragte Jess.
»Das Problem ist, daß er elf Jahre älter ist als du. Er hat all das, was du noch ausprobieren mußt, bereits hinter sich.«
»Was sind denn schon elf Jahre«, protestierte Jess.
»Elf Jahre eben. Und in diesen elf Jahren hat er Zeit gehabt, sich darüber klarzuwerden, was er vom Leben will.«
»Er will mich.«
»Und was willst du?«
»Ich will ihn!«
»Und was ist mit deiner Karriere?«
»Meine Karriere kriege ich schon. Don liegt sehr viel daran, daß ich eine erfolgreiche Anwältin werde. Er kann mir helfen. Er ist ein toller Lehrer.«
»Du willst einen Partner, Jess, keinen Lehrer. Er wird dir nicht genug Platz zu deiner eigenen
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