Schau Dich Nicht Um
gedroht hatte, sie zu töten, falls sie gegen ihn aussagen sollte. Der Termin für die Verhandlung des Falls war noch zehn Tage entfernt. »Führen Sie sie doch bitte ins Besprechungszimmer, Sally. Ich komme sofort.«
»Soll ich mit ihr reden?« erbot sich Barbara.
»Nein, nein, ich mach das schon.«
»Was meinst du, kann das Ärger bedeuten?« fragte Neil Strayhorn, als Jess in den Korridor hinausging.
»Was sonst?«
Das Besprechungszimmer war ein kleiner, fensterloser Raum, in dem der lange braune Walnußtisch und die acht Stühle um ihn herum gerade Platz hatten. Die Wände hatten den gleichen mattweißen Anstrich wie die in den übrigen Räumen, der beigefarbene Teppich war alt und abgetreten.
Connie DeVuono stand gleich an der Tür. Sie schien geschrumpft zu sein, seit Jess sie das letzte Mal gesehen hatte, ihr schwarzer Mantel fiel weit und formlos um ihren Körper. Ihr Gesicht war so weiß, daß es einen grünlichen Schimmer zu haben schien, und die Haut unter ihren Augen war schlaff und runzlig, trauriges Indiz dafür, daß sie vermutlich seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen hatte. Allein die dunklen Augen sprühten in einem Feuer zorniger Energie und ließen von der früheren Schönheit dieser Frau ahnen.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung«, begann sie.
»Es ist einfach so, daß wir im Moment nicht viel Zeit haben«, sagte Jess gedämpft, aus Sorge, der Frau, die unter starker Spannung zu stehen schien, könnten beim ersten lauteren Wort die Nerven durchgehen. »Ich muß in einer halben Stunde bei Gericht sein.« Jess schob ihr einen der Stühle hin. Die Frau brauchte keine weitere Aufforderung. Als versagten ihr ihre Beine plötzlich den Dienst, ließ sie sich auf den Stuhl hinunterfallen. »Geht es Ihnen nicht gut? Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee? Oder ein Glas Wasser? Kommen Sie, geben Sie mir Ihren Mantel.«
Connie DeVuono winkte bei jedem der Vorschläge mit zitternden Händen ab. Jess bemerkte, daß ihre Fingernägel bis zum Fleisch hinunter abgeknabbert waren, die Nagelhaut an allen Fingern blutig gerissen war. »Ich kann nicht aussagen«, sagte sie. Ihre Stimme war so leise, daß sie kaum zu hören war, und sie wandte sich ab, als sie sprach.
Dennoch wirkten die Worte wie ein Schlag. »Was?« fragte Jess, obwohl sie genau verstanden hatte.
»Ich habe gesagt, ich kann nicht aussagen.«
Jess setzte sich auf einen der anderen Stühle und rückte so nahe an Connie DeVuono heran, daß ihre Knie sich berührten. Sie nahm die Hände der Frau, die eiskalt waren, und umschloß sie mit den ihren.
»Connie«, begann sie langsam, während sie versuchte, die kalten Hände zu wärmen, »unsere ganze Beweisführung steht und fällt mit Ihnen. Wenn Sie nicht aussagen, kommt der Mann, der Sie überfallen hat, ungeschoren davon.«
»Ich weiß. Es tut mir wirklich leid.«
»Es tut Ihnen leid?«
»Ich kann nicht aussagen. Ich kann nicht. Ich kann nicht.« Sie begann zu weinen.
Jess zog hastig ein Papiertuch aus der Tasche ihrer grauen Jacke und hielt es Connie hin, doch die ignorierte es. Ihr Weinen wurde lauter. Jess dachte an ihre Schwester, wie mühelos es ihr zu gelingen schien, ihre weinenden Säuglinge zu beruhigen und zu trösten. Jess besaß keine solchen Talente. Sie konnte nur hilflos dabeisitzen, ohne etwas zu tun.
»Ich weiß, daß ich Sie im Stich lasse«, sagte Connie DeVuono schluchzend. »Ich weiß, daß das für alle eine kalte Dusche ist...«
»Machen Sie sich unseretwegen keine Sorgen«, sagte Jess. »Sorgen Sie sich um sich selbst. Denken Sie daran, was dieses Ungeheuer Ihnen angetan hat.«
Connie DeVuono hob den Kopf und sah Jess mit zornigem Blick an. »Glauben Sie, das könnte ich je vergessen?«
»Dann müssen Sie dafür sorgen, daß er so etwas nie wieder tun kann.«
»Aber ich kann nicht aussagen! Ich kann es einfach nicht. Ich kann nicht.«
»Okay, okay, beruhigen Sie sich. Es ist ja gut. Weinen Sie sich erst mal aus.«
Jess lehnte sich an die harte Stuhllehne und versuchte sich in Connie
hineinzuversetzen. Seit dem letzten Mal, als sie miteinander gesprochen hatten, war offensichtlich etwas geschehen. Bei jeder ihrer früheren Zusammenkünfte hatte sich Connie trotz aller Angst fest entschlossen gezeigt auszusagen. Sie war die Tochter italienischer Einwanderer und im unerschütterlichen Glauben ihrer Eltern an das amerikanische Rechtssystem aufgewachsen. Jess war von diesem festen Glauben sehr beeindruckt gewesen. Sie hielt es durchaus für
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