Schau Dich Nicht Um
möglich, daß er stärker war als ihr eigener, der nach vier Jahren bei der Staatsanwaltschaft doch etwas gelitten hatte.
»Ist etwas passiert?« fragte sie und beobachtete Connie scharf.
Connie hob den Kopf und straffte die Schultern. »Ich muß an meinen Sohn denken«, sagte sie mit Nachdruck. »Er ist erst acht. Sein Vater ist vor zwei Jahren an Krebs gestorben. Wenn mir jetzt auch noch etwas passiert, hat er keinen Menschen mehr.«
»Aber Ihnen wird nichts passieren.«
»Meine Mutter ist zu alt, um sich um ihn zu kümmern. Außerdem spricht sie sehr schlecht Englisch. Was soll denn aus Steffan werden, wenn ich sterbe? Wer soll sich um ihn kümmern? Sie vielleicht?«
Jess verstand, daß die Frage rhetorisch gemeint war, antwortete aber dennoch. »Mit Männern hab ich’s leider nicht besonders«, sagte sie leise, in der Hoffnung, Connie zum Lächeln zu bringen. Die bemühte sich, wie sie sah, aber ohne Erfolg. »Aber, Connie, wenn wir Rick Ferguson erst hinter Schloß und Riegel haben, kann Ihnen gar nichts mehr passieren.«
Connie DeVuono zitterte. »Es war schlimm genug für Steffan, daß er seinen Vater so früh verlieren mußte. Gibt es etwas Schlimmeres, als dann auch noch die Mutter zu verlieren?«
Jess spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie schüttelte den Kopf. Nein, es gab nichts Schlimmeres.
»Connie«, begann sie und war selbst überrascht, als sie das Zittern in ihrer Stimme wahrnahm. »Glauben Sie mir, ich verstehe Sie. Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist. Aber wie kommen Sie
auf den Gedanken, Sie seien sicher, wenn Sie nicht aussagen? Rick Ferguson ist schon einmal in Ihre Wohnung eingebrochen. Er hat Sie so brutal zusammengeschlagen, daß Sie einen ganzen Monat lang kaum die Augen öffnen konnten. Er wußte nicht, daß Ihr Sohn nicht zu Hause war. Das war ihm völlig gleichgültig. Wieso glauben Sie, daß er es nicht wieder versuchen wird? Besonders wenn er weiß, daß er nichts zu fürchten hat, weil Sie zu große Angst haben, um ihm das Handwerk zu legen. Wieso glauben Sie, daß er nicht das nächste Mal auch Ihren Sohn mißhandeln wird?«
»Das wird er nicht tun, wenn ich nicht aussage.«
»Aber das wissen Sie doch gar nicht.«
»Ich weiß nur, daß er gesagt hat, er würde mich umbringen, ehe ich aussagen könnte.«
»Aber damit hat er Ihnen doch schon vor Monaten gedroht, und das hat Sie nicht von Ihrem Entschluß abbringen können.« Einen Moment war es still. »Was ist passiert, Connie? Wovor haben Sie Angst? Hat er irgendwie mit Ihnen Kontakt aufgenommen? Wenn das der Fall ist, können wir seine Freilassung auf Kaution aufheben lassen -«
»Sie können gar nichts tun.«
»Wir können eine ganze Menge tun.«
Connie DeVuono griff in ihre große schwarze Ledertasche und entnahm ihr eine kleine weiße Schachtel.
»Was ist das?«
Ohne ein Wort zu sagen reichte Connie Jess die Schachtel. Jess öffnete sie und zog vorsichtig die Schichten von Seidenpapier weg, unter denen sie etwas Kleines, Hartes spürte.
»Das Kästchen stand vor meiner Tür, als ich sie heute morgen aufmachte«, sagte Connie, während sie zusah, wie Jess das letzte Papier wegzog.
Jess drehte sich der Magen um. Der Schildkröte, die leblos und nackt in ihren Händen lag, fehlten der Kopf und zwei Beine.
»Sie hat Steffan gehört«, sagte Connie tonlos. »Als wir vor ein paar Tagen abends nach Hause kamen, war sie nicht in ihrem Glas. Wir konnten nicht begreifen, wie sie da herausgekommen sein sollte. Wir haben sie überall gesucht.«
Jess begriff augenblicklich Connies Entsetzen. Vor drei Monaten war Rick Ferguson in ihre Wohnung eingebrochen, hatte sie geschlagen und vergewaltigt und ihr dann mit dem Tod gedroht. Jetzt wollte er ihr offenbar zeigen, daß es ihm ein leichtes sein würde, seine Drohungen wahrzumachen. Wiederum hatte er sich Zugang zu ihrer Wohnung verschafft, so mühelos, als hätte man ihm den Schlüssel gegeben. Er hatte das Haustier ihres Kindes getötet und verstümmelt. Niemand hatte ihn beobachtet. Niemand hatte ihn daran gehindert.
Jess hüllte die tote Schildkröte wieder in ihren Kokon aus Seidenpapier und legte sie zurück in ihren kleinen Sarg.
»Ich hab zwar wenig Hoffnung, daß uns das etwas bringen wird, aber ich möchte das doch mal im Labor untersuchen lassen.« Sie ging zur Tür und winkte Sally. »Würden Sie mir das bitte ins Labor bringen lassen.«
Sally nahm das Kästchen so vorsichtig entgegen, als hätte sie es mit einer Giftschlange zu
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