Schauen sie sich mal diese Sauerei an
Kribbeln in den Fingern?«, versuchte Hein doch noch einen ernsthaften Hintergrund für unser Erscheinen zu ergründen. »Yoga. Nach dem Sonnengruß hab ich die Lotusbrücke versucht, da hab ich es gleich gemerkt. Wirbelsäulentrauma! Ich war wohl zu verspannt, da kann die Energie dann halt nicht zu jedem Chakra durchdringen. Beim Herzchakra war Schluss, tiefer kam keine Leichtigkeit mehr an.« »Und was hat das mit dem Kribbeln in den Fingern zu tun?«, fragte Hein ratlos. »Ja mein Gott, die Energie fließt ja auch andersrum!«, stellte unsere Patientin, wenn man sie so nennen möchte, wie selbstverständlich fest. »Natürlich. Wo ist eigentlich Ihr Freund beziehungsweise Lebensgefährte?«, forschte Hein resigniert, in der Hoffnung, Unterstützung zu erlangen. Veronika antwortete traurig: »Der ist immer noch auf Montage in Brasilien, irgendwas stimmt da auch nicht, Pedro hat sich schon eine Woche nicht gemeldet!« Wenn ich der wäre, würde ich mein Aussehen verändern, mir falsche Papiere besorgen und dieser psychomental entkoppelten Alten für den Rest meiner Tage aus dem Weg gehen, dachte ich bei mir, als Veronika mit Tränen in den Augen bettelte: »Können Sie mich mal massieren? Ich vermisse so sehr die Berührung männlicher Hände.« »Ganz sicher werden wir diese körperliche Grenze zum Patienten nicht überschreiten! Wir werden Sie nicht massieren, ich wüsste auch gar nicht, wie das geht!«, schaltete ich mich entrüstet ein. »Das ist kein Problem, ich habe eine Anleitung für exotische Tantra-Massagen auf DVD. Kennen Sie den Unterschied zwischen Deep Diver und Free Floater?« »Nein, und ich glaube auch nicht, dass ich ...«, hier wurde ich rücksichtslos unterbrochen: »Also die Deep Diver massieren nur ihren Partner und dringen dabei in die Tiefen der partnerschaftlichen sexuellen Ekstase vor. Die Free Floater, na ja, wie der Name schon sagt. Ooch bitte, nur ne halbe Stunde«, flehte Veronika und leckte sich dabei kess über die Oberlippe. »Wir würden noch einen Tee trinken, aber das wärs dann auch!«, machte Hein ein diplomatisches Angebot, um Veronika nicht völlig zu enttäuschen. »Au ja! Ich hab ayurvedischen Pitta-Tee im Haus.« Die nächste halbe Stunde lernte ich viel über Ayurveda. Veronika sei ein Pitta-Typ und dürfe deshalb nichts sehr Heißes und sehr Scharfes essen, weil ja schon so viel Feuer in ihr brenne. Der Gipfel des Gesprächs war aber die neue Mitgliedschaft in der Selbsthilfegruppe »Hammer, Amboss, Steigbügel - Tinnitus ist auch Musik«. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten wir es geschafft. Wir waren draußen. Doch Hein und ich wussten, es war nur eine Frage der Zeit, bis uns erneut eine Welle aus dem Ozean des Wahnsinns in die Brandung unseres Schicksals werfen würde. »Das kann doch nicht wahr sein, jetzt hat die uns schon zweimal mit Alarm zum Kaffee bestellt! Gehts noch?!«, ereiferte ich mich. »Was willst du machen? Die ruft bei der Leitstelle an und kennt anscheinend einige Schlüsselworte, die unseren Einsatz zwingend machen. Durchgeknallt ist die Tante, ja, aber kein Hinweis auf Eigen- oder Fremdgefährdung. Zurzeit können wir das Ganze nur ertragen.« Bei unserem nächsten Besuch ging es Veronika tatsächlich schlecht. Mit tiefen Augenrändern und verheulten Augen öffnete sie uns die Tür. Sie atmete zu schnell und zitterte am ganzen Körper. Abwehrend hielt sie uns den staubigen Traumfänger entgegen und schrie: »Kommen Sie mir nicht zu nahe, und sprechen Sie nur durch dieses Netz, ich kann keine schlechte Energie mehr ertragen!« »Was ist denn vorgefallen, dass Sie derart außer sich sind?«, begann ich möglichst einfühlsam das Gespräch. Den Traumfänger noch immer schützend vor sich haltend, zeigte Veronika mir ein Stück trockenes Wurzelholz. Ich war verwirrt. »Was soll das denn jetzt? Hat das Stück Holz etwas mit Ihrer Situation zu tun?« »Das ist ein indianischer Sprechstab! Wenn Sie etwas sagen oder fragen wollen, müssen Sie den Sprechstab festhalten. Kein Sprechstab, keine Stimme!«, schluchzte Veronika und hielt mir das Wurzelstück auffordernd entgegen. Willkommen in Veronikas Paralleluniversum, dachte ich mir, nahm den Sprechstab aber entgegen, um nicht sofort alle emotionalen Türen zuzuschlagen. »Das darf doch alles nicht wahr sein!«, meinte Hein verärgert, wurde aber sofort von Veronika lautstark zurechtgewiesen: »Sie dürfen nichts sagen, Sie haben keinen Sprechstab!« »Sie doch auch nicht!«, stellte Hein leicht erbost
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