Schauen sie sich mal diese Sauerei an
schon »normal« beziehungsweise die »Normalität« ? In der Regel meint man mit diesen Begriffen, dass ein zu beschreibendes Objekt nicht über eine unsichtbare Grenze hinaus die gesellschaftlich akzeptierten Normen überschreitet. Nie wurde geklärt, wer oder was Veronika so werden ließ, wie sie war und mit hoher Wahrscheinlichkeit bis zum heutigen Tag ist. Vielleicht war es die Musik ihrer Jugend, vielleicht die Ablehnung pubertierender Jungs oder die Treue zu einem schlechten Friseur. In jedem Fall hatte Veronika ein gestörtes Verhältnis zu Mitmenschen aller Art. Ein harmloser Einkauf beim Metzger endete in einem Eklat, nachdem dieser mit dem Löffel fürs Rindermett anschließend auch das Schweinemett portioniert hatte. Der Besuch bei einem Küchenplaner in einem Möbelzentrum stand sogar aufgrund einer körperlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheit einst im Lokalteil der Tageszeitung. Beziehungen zu Männern waren meist nur kurz, und auch ihre Familie hatte den Kontakt auf ein Minimum reduziert. Der Kern des Problems ließ sich relativ kurz umschreiben: Veronika war eine ausgeprägte Hypochonderin, Mitglied diverser Selbsthilfegruppen, schnell verliebt und schnell beleidigt. Als Leser fragen Sie sich: Was soll das? Ich habe ein Buch mit Rettungsdienstgeschichten in den Händen. Was haben die letzten Zeilen mit dem Rettungsdienst zu tun? Ich schreie die Antwort verzweifelt in die Welt hinaus: Irgendein hirnverbrannter Hornochse hat Veronika die Notrufnummer 112 verraten und vergessen, ihr den Sinn eines Notrufs zu erklären. Glauben Sie mir: Hein und ich haben aufgehört zu zählen, wie oft wir völlig schwachsinnige Einsätze mit dieser Person erlebt haben. Es gibt wohl keine Patientin, die ich häufiger besucht habe. Mit welcher hilflosen Ohnmacht wir dieser Mischung aus Dreistigkeit, Penetranz und vorgetäuschter Unschuld gegenüberstehen mussten, das erschüttert mich bis heute. Der Kennenlern-Einsatz gehörte schon in die Kategorie »Überflüssig«. »Kommen Sie schnell, es schwillt weiter an!«, schrie Veronika zur Begrüßung, noch im Türrahmen stehend. Sie rannte voraus in ihre Wohnung im Hochparterre, und wir folgten eilig in Erwartung dramatischer Ereignisse. Als Hein und ich die Wohnungstür passiert hatten, schloss Veronika ein Sicherheitsschloss, legte einen Riegel vor und schob eine Sichtblende vor den Türspion. Verdutzt trafen sich Heins und meine Blicke. In gewisser Weise hatte man uns eingeschlossen. Ein Gefühl der körperlichen Überlegenheit ließ uns Ruhe bewahren, und Hein begann ganz klassisch ein Patientengespräch: »Guten Tag, erst mal. Zwei Fragen vorweg: Sind Sie unser Patient? Und was schwillt an?« »Ich bin Ihre Patientin! Ich bin nicht umsonst in Männerdomänen eingebrochen. Ich war acht Jahre Messdiener, äh, Messdienerin! Ich hab es nicht nötig, mit der falschen Geschlechtsform angesprochen zu werden«, gab Veronika erbost zurück. »Entschuldigen Sie vielmals meinen Fauxpas, dennoch nochmals meine zweite Frage: Was schwillt an?«, fragte Hein erneut. Er schien bereits jetzt von der Situation genervt zu sein. »Mein Zeigefinger, schauen Sie doch hier, mich hat eine Wespe gestochen!« Mitleid heischend hielt Veronika einen minimal geschwollenen und leicht geröteten Finger in die Höhe. »Sind Sie gegen Bienen- oder Wespengifte allergisch?«, fragte ich sachlich kühl. »Das weiß ich doch nicht, was glauben Sie eigentlich, warum ich Sie gerufen habe?« Hein machte Anstalten, den Blutdruck zu messen, während ich mich überaus korrekt erkundigte: »Wann sind Sie denn das letzte Mal von einem Hautflügler gestochen worden?« »Von was gestochen?« »Von einer Biene, Wespe etc.« »Ach so, vor ungefähr zwei Monaten. Die kleinen Biester sitzen immer in meinen Hagebutten.« »Der Blutdruck ist optimal, 125/85!«, unterbrach Hein knapp, woraufhin ich meine Befragung fortsetzte: »Und hatten Sie nach dem Stich vor zwei Monaten irgendwelche Probleme?« Veronika zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Nö, der ist damals genauso angeschwollen wie jetzt auch, und am nächsten Tag war alles wieder gut.« Ich versuchte, freundlich zu bleiben, und säuselte: »Und wenn Sie mir jetzt noch kurz erklären würden, warum Sie die 112 angerufen und einen Notruf abgesetzt haben, dann wäre auch schon alles klar.« »Beim letzten Mal war mein Freund da, aber der ist im Augenblick auf Montage. Der hat mir irgend so eine Salbe draufgeschmiert, also auf den Stich. Dann hat es aufgehört
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